Beängstigende Nähe
«Ich verstehe das einfach nicht. Für alles andere in deinem Leben hast du auch einen Termin. Nur für unsere Beziehung willst du dir partout keinen Abend reservieren.» Simone ist aufgebracht. Wenn Silas sich nicht bald ändert und wenigstens den Willen zeigt, über die Probleme in ihrer Beziehung zu sprechen, wird das nichts. Alle möglichen Horrorszenarien schiessen ihr durch den Kopf. Doch Silas bleibt vage: «Heute mag ich nicht mehr darüber reden, morgen und am Wochenende kann ich nicht. Mal sehen, vielleicht dann nächste Woche.»
Abhängig oder distanziert
So geht das schon eine ganze Weile zwischen Silas und Simone. Sie, die Abhängige, die unablässig um ihre Beziehung kämpft und die Nähe zu ihrem Mann sucht. Und er, der Unabhängige, der auf Distanz geht. Je näher sie ihm kommt, desto unnahbarer wird er. Und je mehr er sich zurückzieht, desto mehr wird sie zum Klammeraffen. Immer öfter versucht sie, Grundsatzdiskussionen anzuzetteln, während er immer einsilbiger wird. Silas und Simone haben sich in ihren gegensätzlichen Rollen wunderbar eingerichtet.
Silas will keine Verantwortung übernehmen, keine festen Termine für Datenights und schon gar keine Verletzlichkeit oder Liebe zeigen, weil er Angst hat. Natürlich merkt er das nicht und würde es sich auch nie eingestehen, aber er hat Angst, seine Ehe zu verlieren. Er hat Angst vor seiner eigenen Bedürftigkeit und davor, abgelehnt und verletzt zu werden. Deshalb fährt er die Schutzschilde hoch.
Angst vor Zerbruch
Paradoxerweise hat Simone genau die gleiche Angst wie Silas. Auch sie hat Angst, dass ihre Ehe zerbricht. Auch sie hat Angst, zurückgewiesen und verletzt zu werden. Nur haben sie beide gegensätzliche Strategien gewählt, um mit dieser Angst umzugehen. Er würde sich am liebsten völlig zurückziehen, sie würde am liebsten mit ihrem Mann verschmelzen. Diese Strategien passen zueinander und ergänzen sich perfekt. Sein Rückzug wäre ohne ihr ständiges Drängen nicht möglich. Und umgekehrt.
Unglücklicherweise verstärken sich ihre beiden Strategien gegenseitig und es besteht die Gefahr, dass sie in eine immer stärkere Polarisierung geraten, in der er immer distanzierter und sie immer fordernder wird. Bis irgendwann die Spannung zu gross wird und es zum Knall kommt.
Zu viel Verständnis
Da beide Partner unbewusst das gleiche Ziel verfolgen, kann eine solche Paardynamik auch plötzlich ins Gegenteil kippen. Wenn Silas plötzlich Nähe sucht, läuft Simone Gefahr, in die andere Rolle zu schlüpfen und ihre Angst zu bewältigen, indem sie plötzlich distanziert und unnahbar wird. Das ist so, wie wenn ein ewiger Junggeselle sich nach jahrelangem Zögern endlich dazu durchringt, seiner Freundin, die ihn schon lange drängt, einen Heiratsantrag zu machen. Nicht selten kommen ihr dann plötzlich Zweifel, ob das Ganze nicht doch zu verbindlich ist.
Bei solchen Dynamiken geht es nicht um Liebe, sondern um Kontrolle. Simone und Silas versuchen beide auf ihre Weise, diese beängstigende Situation unter Kontrolle zu bringen. Und sie ergänzen sich dabei perfekt. Auch wenn sie das alles natürlich ganz anders sehen und beide überzeugt sind, dass es nichts mit ihnen, aber sehr viel mit dem anderen zu tun hat.
Das Mittelmass
Der Ausweg aus dieser zerstörerischen Beziehungsdynamik besteht darin, etwas mehr von dem zu tun, was nicht der eigenen Rolle entspricht, sondern eigentlich im Drehbuch des Partners oder der Partnerin stehen würde. Simone kann ihrem Mann Freiheit und Unabhängigkeit zugestehen, statt ihn ständig zu bedrängen. Und Silas kann sich nahbar und verletzlich zeigen, statt auf Distanz zu gehen. Damit es nicht zum oben beschriebenen Rollentausch, sondern zu einer Annäherung kommt, sollten sie es nicht übertreiben und ins andere Extrem rutschen. Nur so lernen sie beide, diese manchmal durchaus bedrohliche Nähe, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit auszuhalten, die eine Partnerschaft mit sich bringt, statt sie mit destruktiven Strategien unter Kontrolle halten zu wollen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei FamilyLIFE.
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Datum: 30.03.2024
Autor:
Marc Bareth
Quelle:
Familylife