Bedeutung von Wundern

Wenn die Schöpfung Gottesdienst feiert

Jesus mit seinen Jüngern im Film «Son of God»
Für viele Menschen sind Wunder ein «Eingriff in die Schöpfung». Bedeutet dies, dass Gott bei der Schöpfung Fehler gemacht hat? Oder sind gewisse Wunder bedeutender als andere?

Zwei Dinge wissen die meisten Menschen über Jesus: Er zog mit seinen Jüngern durch das Land Israel – und er tat Wunder. Er heilte Kranke und trieb Dämonen aus, aber er brachte auch Stürme zur Ruhe und ging auf dem Wasser. Er trat also nicht nur den Menschen und Dämonen gegenüber als «Herr» auf, sondern auch gegenüber der Natur. In den Wundern erlebt die Schöpfung ihren Schöpfer. Welche Bedeutung hat das für uns heute? Sollen wir auf solche Wunder hoffen?

Wunder werden oft als «Eingriff in die Schöpfung» beschrieben. Dahinter steht die Vorstellung: Die Natur bzw. die Schöpfung folgt einer ihr innewohnenden Ordnung oder Gesetzmässigkeit, die nach festen Regeln abläuft. Der gängige, wenn auch unpräzise Begriff für diese Regelmässigkeit sind die Naturgesetze. Sie gelten, so wird angenommen, immer und unbedingt. Tritt ein Fall auf, wo das Naturgesetz bzw. diese Regelmässigkeit «gebrochen» wird, dann ist das ein Problem. Denn es ist gut, wenn Regeln und Gesetze befolgt und nicht gebrochen werden.

Einem Gott vertrauen, der nachbessern muss?

Genau aus diesem Grund hat die Theologie parallel zum Aufkommen des frühen naturgesetzlichen Weltbilds angefangen, mit Wundern zu hadern: mit den biblischen nicht weniger als mit denen, die sich im Lauf der Geschichte immer wieder ereignet haben. Denn für die Aufklärungstheologie im Kontext der aufkommenden modernen Naturwissenschaften war die Ordnung der Schöpfung ein starker Hinweis auf den Schöpfer. In der christlichen Apologetik spielte dieses Verständnis der Schöpfung als eines perfekt orchestrierten Organismus für lange Zeit eine wichtige Rolle.

Doch je besser man die Natur erforschte, desto stärker geriet der Wunderglaube in Misskredit. Warum? Weil ein Wunder diesen geordneten Ablauf unterbricht oder durchbricht. Wunder werden plötzlich peinlich für den Schöpfer. Denn die vollkommene Schöpfung stellte man sich wie ein Uhrwerk vor, das – einmal konstruiert und aufgezogen – «wie am Schnürchen» abläuft. Bei einem solchen Verständnis der Schöpfung sind Wunder dann so etwas wie Nachjustierungen bzw. Reparaturen. Das aber ist der Vorstellung eines perfekten Schöpfers unwürdig, sodass der Wunderglaube geradezu als Kleinglaube oder Aberglaube abgelehnt wurde.

Edle Wunder – und belanglose?

Die Physikotheologie (so nennt man diese Bewegung) hatte angesichts ihrer Erforschung der Schöpfung und deren berechenbarer Verlässlichkeit sozusagen einen Schöpfer erdacht, der perfekter war als derjenige Schöpfer, der sich in den biblischen Schriften geoffenbart hat. Der wohl wichtigste deutsche Theologe des 19. Jahrhunderts, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), hielt daher nur diejenigen Wunder für zulässig, die einem höheren ethischen Ziel dienen – und dafür kam für ihn am ehesten die Auferstehung in Frage (obwohl er auch da eher einer rationalistischen Erklärung zuneigte). Straf- oder Zeichenwunder wie die Verfluchung des Feigenbaums oder die zahlreichen Heilungen haben dagegen nach Schleiermacher kein höheres Ziel und sind von daher ohne religiöse Bedeutung.

Doch so einfach wird man die Wunder nicht los, die bis heute Menschen faszinieren. Der Schlüssel für ein angemesseneres Verständnis liegt darin, die belebte und unbelebte Natur als Schöpfung zu begreifen, die durch das Wort ihres Schöpfers besteht und seinem Gebot unterliegt. Denn dann begegnet sie in Jesus ihrem Schöpfer und damit ihrem Herrn, dem sie dienen wollen oder gehorchen müssen.

Doppelte Wirkung der Heilungen bei Jesus

Gehen wir von den «einfachen» Wundern aus, die Jesus tat: Heilungen und Dämonenaustreibungen, werden selbst in der kritischen Bibelwissenschaft heute (wieder) überwiegend als historische Gegebenheiten angesehen. In diesen Wundern geschieht eine Wiederherstellung des «natürlichen» Zustandes und der Schöpferabsicht: Zum Menschsein gehört die Fähigkeit zum Sehen, Hören, Reden und der Gebrauch der Gliedmassen. Fast alle Heilungswunder berichten von solchen Wiederherstellungen. Ihr Ziel ist ein zweifaches: Menschen können wieder reden, hören, sehen und sind von ausgrenzenden Unreinheiten (Aussatz) befreit und damit wieder voll gemeinschafts- und gesellschaftsfähig. Indem Jesus sie heilt, stellt er den schöpfungsgemässen Zustand der betroffenen Menschen wieder her und ermöglicht ihnen die Teilhabe an der Gemeinschaft mit Gott und anderen Menschen.

Wozu Wasser, Stürme und Bäume da sind

Was bedeutet das im Hinblick auf die sogenannten Naturwunder (Sturmstillung, Gehen auf dem Wasser)? Auch hier begegnet die Schöpfung ihrem Schöpfer. Er fordert diese auf und ermöglicht ihr, dass sie ihren schöpfungsgemässen Dienst tut. Das Wasser, die Sterne, die Bäume – sie alle sind dazu da, dem Schöpfer zu dienen und ihn zu verherrlichen. Diese ursprüngliche Bestimmung der Schöpfung ist durch die Sünde des Menschen zerstört worden – von Adam bis heute. Darum seufzt die Schöpfung und sehnt sich nach der Erlösung (Römer Kapitel 8, Verse 21-22). Wie eine erlöste Schöpfung aussieht, das zeigen die Wunder von Jesus: Dann trägt das Wasser, wenn sein Schöpfer es will. Dann gesunden die menschlichen Leiber, wenn es ihnen ihr Schöpfer befiehlt. Dann vermehrt sich das Brot, weil auch die Materie ihrem Schöpfer dient.

Die geschaffenen Wesen und Dinge dienen aber nicht nur ihrem Schöpfer, sondern sie wollen auch den Menschen dienen. Denn die Menschen sind vom Schöpfer als die Verwalter der Schöpfung bestimmt. Die biblischen Bilder vom Tierfrieden (Jesaja Kapitel 11, Verse 6-9; Kapitel 65, Verse 17-25) gehen darum über das Reich der Tiere hinaus: Menschen und Tiere sind friedlich miteinander und füreinander da, und die Pflanzen und Bäume spenden ihren Ertrag. Dies setzt voraus, dass auch die unbelebte Schöpfung – vom Wetter bis zum Erdreich – erlöst ist für ihren ursprünglichen Auftrag. Die Wunder von Jesus sind also auch Befreiungsgeschichten der erlösten Schöpfung, die nicht mehr als Folge der Sünde dem Bösen dienen muss, sondern den Menschen und allen Mitgeschöpfen Gutes tun darf und gerade in diesem Tun ihren Schöpfer verherrlicht.

Was können wir erwarten?

Als Christen können und sollen wir dazu beitragen, dass dieser Gottesdienst der Geschöpfe zeichenhaft geschehen kann. Das heisst konkret: Aller Umgang mit dem von Gott Geschaffenen soll von der Haltung geprägt sein, dass es seinem Schöpfer dienen und nicht für Böses missbraucht werden will.

Aber wo bleiben dann die sichtbaren Wunder für uns heute? Wenn wir Wunder als Dienst der Schöpfung verstehen, dann ist jede Heilung, egal wodurch sie bewirkt wird, eine Gabe des Schöpfers. Denn er hat den Menschen die Fähigkeit verliehen, Krankheiten zu verstehen und Mittel zu ihrer Heilung zu finden, von Heilkräutern bis zu den medizinisch-technischen Geräten, die so viel Gutes stiften. So wie wir Gott um das tägliche Brot bitten und doch selber Brot backen, so dürfen wir Gott auch um die Erhaltung des Leibes und der Seele bitten und dazu dankbar die Hilfen in Anspruch nehmen, die Gott den Ärzten ermöglicht. Wir werden rückblickend auf unser Leben, dessen bin ich gewiss, Bewahrungen und Heilungen sehen, die Gott an uns geschehen liess, ohne dass wir es ahnten, und wir werden ihm für die Wunder danken, die wir erlebten, ohne es zu merken. In dieser Weise sollte man nicht nur auf Wunder hoffen, sondern Gott danken für die Wunder, die er jeden Tag an uns tut.

Und die grossen Wunder, die wir uns manchmal so sehr wünschen? Da hat Schleiermacher recht: Sie geschehen, wenn sie einem höheren Zweck, und das heisst: Gottes Plänen dienen. Darum überlasse ich das getrost Gott und bitte nur um das eine: «Dein Wille geschehe!»

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Datum: 10.11.2024
Autor: Roland Deines
Quelle: Magazin Faszination Bibel Sonderheft 2024, SCM Bundes-Verlag

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