Die Fragen, die Jesus stellte

Was sucht ihr? - Was geht es dich an?

Thomas Härry hat sich über die erste und letzte Frage von Jesus Gedanken gemacht.
Um die 230 Fragen von Jesus sind in der Bibel festgehalten. In der Serie geht es heute um seine erste und die letzte Frage - und wie sie unserer Nachfolge auf die Sprünge helfen. Thomas Härry dazu, was uns egal sein sollte und was entscheidend ist.

Vor mir steht eine meiner Töchter und präsentiert ihr neu gekauftes Kleid. «Na Papa, wie gefällt es dir?» Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, meine Antwort auf solche Fragen gut abzuwägen. Besonders, wenn das Kleid und mein Geschmack weit auseinander liegen. Dann sage ich: «Du siehst wie immer grossartig aus!» Betonung auf «Du …siehst grossartig aus!». Kein unnötiger Kommentar zum Kleid an sich. Gelingt nicht immer …

Das Erleben mit meinen Töchtern hat mich etwas Wichtiges gelehrt: Nicht jede offene Frage ist tatsächlich eine offene Frage. Im obigen Fall zum Beispiel steht von Anfang an fest, welche Antwort meine Tochter hören möchte. Ich sollte es deshalb nicht vermasseln, will aber auch nicht lügen. Da hilft es sehr, dass Johanna wunderschön ist, Kleid hin oder her.

Auch bei den offenen Fragen von Jesus in der Bibel lohnt es sich, gut zu überlegen, wie offen sie in Wahrheit sind. Manchmal liegt die richtige Antwort auf der Hand. Er will sie seinem Gegenüber aber weder präsentieren noch aufdrängen. Fast immer geht es am Ende darum, sich zu entscheiden. Man durfte sich Zeit lassen und reiflich überlegen, bevor man Stellung bezog.

Der Fragende, der die Antwort kennt

Eines Tages hatte ich die Idee, in meiner Gemeinde über die erste und letzte Frage von Jesus im Johannesevangelium zu predigen. Was ich dabei entdeckte, begeistert mich bis heute. Die erste Frage fällt in die Zeit, in der Johannes der Täufer noch aktiv damit beschäftigt ist, seine Anhänger auf den kommenden Messias vorzubereiten. Eines Tages begegnen sie Jesus. Johannes wendet sich an seine beiden Begleiter: «Seht dort, das Opferlamm Gottes.» Die beiden hörten es und gingen Jesus nach. Jesus drehte sich um, sah, dass sie folgten, und fragte: «Was sucht ihr?» (Johannes 1,36-38, GNB).

Eine simple Frage. Eine, deren Antwort Jesus bereits kennt, denn «über die Menschen brauchte ihm niemand etwas zu sagen; er kannte das menschliche Herz …» (Johannes 2,25). Es geht ihm also nicht darum, etwas zu erfahren. Er will, dass die beiden Männer diese Frage für sich selbst beantworten. Sie sollen sich über ihre Beweggründe klar werden: «Was wollt ihr von mir? Was veranlasst euch, den Täufer zu verlassen und mir nachzufolgen?» Klar, sie nannten Jesus «Rabbi» (V.38), später sogar «Messias» (V.41). Doch was heisst das schon! Man konnte sich darunter alles Mögliche und Unmögliche vorstellen. Die einen sahen im kommenden Messias den starken Typen, der sich der Herrschaft Roms entgegenwirft. Der den alten Glanz der Davids Zeit wiederaufleuchten lässt. Andere wollten, dass er den Tempel erneuert und eine spirituelle Erweckung herbeiführt. Und so fragt er diese beiden Männer: «Was sucht ihr?»

Klären, worum es mir am Ende geht

Ich kenne im Blick auf die Nachfolge von Jesus kaum eine wichtigere Frage als die Frage nach meinen Motiven. Was erwarte und erhoffe ich mir von Jesus? Eine ehrliche Antwort darauf finden wir in der Regel dann, wenn wir einen Moment innehalten und uns überlegen, was uns in den letzten Tagen in besonderer Weise beschäftigt und in Beschlag genommen hat.

Was habe ich zu erreichen oder zu sichern gesucht? Hier verbirgt sich womöglich ein wesentlicher Teil der Antwort auf die Frage, worauf ich aus bin – als Mensch und als Christ. Auskunft über meine Beweggründe geben uns auch die Dinge, für die ich gerne Geld ausgebe. Womit ich viel Zeit verbringe. Die Themen, Fragen, Sorgen, um die ich innerlich tagein, tagaus kreise.

Gerade habe ich zwei Tage unter Pfarrerinnen und Pfarrern verbracht. Ich war eingeladen, mit ihnen über ihre Leitungsaufgabe und ihre Gottesfreundschaft zu sprechen. Ich habe mir im Vorfeld solcher Aufgaben angewöhnt, zwei Fragen so ehrlich wie möglich zu beantworten: Erstens: «Thomas, wie steht es um deinen Energiehaushalt? Gehst du mit versorgter Seele in diese Aufgabe?» Nur dann nämlich kann ich mein Bestes geben und bin weniger vom Applaus meiner Zuhörenden abhängig. Zweitens: «Um wen soll es hier gehen? Woran sollen sie einen Monat später denken: An Thomas, und wie gut (oder erbärmlich schlecht) er war? Oder daran, wie Jesus persönlich zu ihnen gesprochen hat?»

Jeder und jede von uns trägt bestimmte Vorstellungen und Erwartungen mit sich herum, was Jesus in einer konkreten Situation für uns tun sollte. Manches ist uns bewusst, anderes nicht.

Lass dich auf mich ein und lass dich überraschen!

Die beiden angesprochenen Männer in Johannes 1 stellen Jesus eine Gegenfrage: »Wo wohnst du, Rabbi?» (V.39). Jesus antwortet: »Kommt und ihr werdet es sehen.» Eine ziemlich vage Antwort. Jesus will sagen: »Findet heraus, was ich mit euch vorhabe. Lasst euch auf mich ein!» Es ist die Einladung, sich davon überraschen lassen, was er mit ihnen vorhat. Für mich hier und heute heisst das: »Lass das ängstliche Kreisen um deine Lebensumstände und lass dich auf mich ein. Wie immer dein Leben aussieht: Ich bin da! Komm und du wirst sehen, dass mir nichts unmöglich ist. Komm und gib mir deine Wünsche und deine Sorgen. Komm und du wirst erleben, wie viel besser die Sache ausgeht, als wenn du versuchst, mich auf deinen Weg zu zerren.»

«Was geht es dich an?»

Machen wir einen grossen Sprung ans Ende des Johannesevangeliums. Hier kümmert sich der auferstandene Jesus besonders intensiv um Petrus, der ihn verleugnet hat. Er spricht mit ihm über Liebe und über den Auftrag, seine Gemeinde zu versorgen. Fordert ihn erneut auf, ihm nachzufolgen. Doch Petrus schweift ab: «Petrus aber … sah den Jünger folgen, den Jesus lieb hatte und der auch beim Abendessen an seiner Brust gelegen hatte … Als Petrus diesen sah, spricht er zu Jesus: Herr, was wird aber mit diesem? Jesus spricht zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an?» (Johannes 21,20-21, LUT). Jesus verbindet gerade die Wunden eines zerknirschten Männerherzens. Und was macht der Angesprochene? Er beschäftigt sich mit Kollege Johannes …

Beneiden, vergleichen, heimzahlen

Kurz darauf: «Jesus, da hat jemand Dämonen ausgetrieben, der gar nicht zu unserem Zwölferkreis gehört. Wir haben es ihm verboten!» (Lukas 9). Und nun wieder: Petrus hat gerade erfahren, dass er eines Tages für seinen Glauben leiden wird (siehe Johannes 21,18). Sofort versucht er he- rauszufinden, ob es nur ihn oder auch Johannes erwischt.

Man sagt manchmal, es sei eine Krankheit unserer Zeit, dass jeder so sehr mit sich selbst beschäftigt sei: Mit seinen Selfies, seinem Erfolg, seinen Sorgen, usw. Ebenso fragwürdig aber ist, dass wir uns viel zu oft mit anderen Menschen beschäftigen und vergleichen: mit der sportlichen Kollegin im Geschäft. Mit den Erziehungsmethoden befreundeter Familien. Der Wohnung, dem Auto, dem Beliebtheitsstatus von X und Y. Ein endloses Spiel. René Girard, ein französische Historiker, vertrat die These, dass der Mensch den grössten Teil seiner Lebenszeit damit verbringe, sich mitanderen zu vergleichen. Dieses Vergleichen hat drei Gesichter. Erstens, wir bewundern bestimmte Menschen – und wollen so sein wie sie. Zweitens, wenn jemand in unserem Umfeld in irgendeiner Sache besser und erfolgreicher ist als wir, dann beneiden wir diese Person. Dann reden wir schlecht über sie, werten sie ab, um selber besser dazustehen. Drittens: Fügt uns jemand Schmerz zu, suchen wir irgendeine Form der Vergeltung und Rache.

Da wollen wir so unabhängig sein – und was machen wir? Wir beschäftigen uns ständig mit anderen. Nicht um ihnen zu helfen oder Gutes zu tun, sondern weil wir besser, schöner, erfolgreicher sein wollen als sie. Auch Petrus befürchtet womöglich, der von Jesus so geliebte Johannes erwische ein besseres Los als er. Jesus entwaffnet ihn mit der schlichten Frage: «Was geht es dich an?»

Überlass den andern mir!

Ich erlebe regelmässig, dass Jesus mit mir über dieses Thema spricht. Da sitze ich zum Beispiel mit meiner Familie beim Essen. Wir reden. Auch über andere. Nicht immer positiv. Oft sind es Kleinigkeiten an einer anderen Person, die mich stören. Und schon beginnt es unter der Oberfläche meiner Worte zu wuchern: vergleichen, beneiden, eins austeilen. Manchmal meldet sich dann dieser leise Jesus-Impuls: «Was geht es dich an? Was bewertest du diese Person? Überlass sie mir!» Gegenüber Petrus belässt es Jesus nicht bei dieser Frage. Er ergänzt sie mit den Worten» Folge du mir nach!» Meint: »Hör auf mit Vergleichen. Achte lieber auf meinen Weg mit dir!»

Damit schliesst sich im Johannesevangelium der Kreis. «Was sucht ihr?» war die erste Frage. Jesus wollte, dass die Jünger ihn suchen und ihm nachfolgen – nicht ihren Wunschbildern. Die letzte Frage: «Was geht es dich an?» weist in eine ähnliche Richtung: »Richte den Blick nicht auf andere, richte ihn auf mich!»

Die Essenz der Nachfolge

Damit beschreibt Jesus das, was Nachfolge im Kern ausmacht: Es geht um Jesus und wie er wirklich ist. Er möchte, dass ich meine Vorstellungen darüber loslasse, was er alles für mich tun soll.

Er möchte, dass ich aufhöre, mich besser oder schlechter als andere zu fühlen. Die Kraft meiner Gedanken und Gefühle soll sich auf ihn richten. Dort komme ich zur Ruhe, finde Frieden, werde gelassen. Diese beiden einfachen Fragen im Johannesevangelium sind mir dabei eine grosse Hilfe.

Zum Thema:
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Datum: 18.08.2024
Autor: Thomas Härry
Quelle: Magazin Aufatmen 3/2023, SCM Bundes-Verlag

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