Neuer Bürgermeister in Istanbul

Christen spielten im ersten Wahlgang Zünglein an der Waage

Die Wahl des oppositionellen Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoglu, entfacht Hoffnungen. Besonders freuen sich die Christen am Bosporus.
Ekrem Imamoglu
Ekrem Imamoglu feiert seinen Wahlsieg

Die Genugtuung über das Resultat gilt für alle Denominationen, gleich ob evangelisch, katholisch oder orthodox, ob Armenier, Griechen oder für Jesus gewonnene Muslim-Türken. Mit Ausnahme dieser evangelischen Christen, die heute in der ganzen Türkei anwachsen, finden sich Armenisch-, Syrisch- und Griechisch-Orthodoxe fast nur mehr in Istanbul und seiner Umgebung. Aus dem übrigen Land wurden jene Christen, die Massenvernichtungen im Ersten Weltkrieg und kurz danach überlebt hatten, 1922/23 vertrieben. Um den Istanbuler Rest hatte sich Imamoglu gezielt bemüht. Ihre rund 13'000 Stimmberechtigten machten im ersten Wahlgang vom 31. März 2019 ziemlich genau seinen knappen Vorsprung aus.

Ein überzeugendes Gegengewicht

Obwohl nun der neue Urnengang auf die heimliche türkische Hauptstadt mit ihrem Wirtschaftspotential und 16 Millionen Einwohnern beschränkt war, jubeln im ganzen Land die Anhänger der noch von Atatürk gegründeten «Republikanischen Volkspartei» (CHP) über den Erfolg ihres Kandidaten. Mit Imamoglu hat diese sozial-demokratische Bewegung endlich wieder eine Persönlichkeit von breiter Popularität hervorgebracht. Zuletzt war das in den 1970er Jahren mit Bülent Ecevit der Fall gewesen.

Gerade der unaufhaltsame Aufstieg des islam-konservativen Recep Tayyip Erdogan seit 2003 hing mit diesem Fehlen eines überzeugenden Gegengewichts aus der Opposition zusammen.

Anfang vom Ende für Erdogan?

Jetzt ist schon von einer Wende in Erdogans Karriere die Rede. Beim ersten Istanbuler Wahlgang vom 31. März hatte ihn die damals nur knappe Niederlage seines Wunschkandidaten Binali Yildirim spürbar getroffen. Erdogan kämpfte mit allen Mitteln für die Wiederholung der Wahlen. Schliesslich hatte er seine politische Karriere selbst als Bürgermeister von Istanbul begonnen und fand es für ihn unzumutbar, ausgerechnet diese Metropole am Bosporus an seine politischen Widersacher zu verlieren.

Erdogan hat daher bis zuletzt für diesmal auf einen Sieg seines treuen Gefolgsmanns Yildirim hingearbeitet, der ihm jahrelang als Verkehrsminister und Regierungschef diente, nachdem er selbst vom Premier ins Amt des Staatsoberhauptes gewechselt war. Nachdem in der Türkei schon an allen Küsten die Badesaison begonnen hatte, liess Erdogan das Heer der türkischen Staatsbediensteten aus ihren Urlaubsorten an die heimischen Urnen zitieren. Eine Briefwahl gibt es in der Türkei noch nicht.

Überraschend schnelle Siegesmeldung

Nach Schliessung der Urnen überschlugen sich die Dinge: Innerhalb weniger Minuten – die offizielle Auszählung hatte eben erst begonnen – verkündete der staatliche Rundfunk Imamoglu als Sieger mit 54% der Stimmen über die 45% von Yildirim. Dieser gratulierte im nächsten Augenblick seinem Gegenkandidaten, der wiederum Präsident Erdogan seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit aussprach.

Christen dürfen auf bessere Zeiten hoffen

Dass es aber noch kein definitives Auszählungsergebnis gibt, wirft Fragezeichen auf: Ist Erdogan plötzlich Demokrat geworden, der einen politischen Gegner ritterlich gewinnen lässt? Yildirim jedenfalls hat seine Niederlage so interpretiert. Andererseits könnte Erdogan, der sonst abgesehen von Ankara, Izmir und jetzt Istanbul bis zu den nächsten Wahlen 2023 überall Alleinherrscher bleibt, diese Schlappe am Bosporus dem internationalen Vorwurf einer Manipulation vorgezogen haben. Für die Christen der Türkei, jedenfalls für jene von Istanbul, bahnen sich aber so oder so bessere Zeiten an.

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Datum: 24.06.2019
Autor: Heinz Gstrein / Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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