Die Berufungsfrage

Was macht Christsein heute aus?

Das einzig Konstante ist der Wandel. Aussagen wie diese gelten irgendwie immer. Doch in ungewissen Zeiten werden sie greifbarer: Jetzt ist es deutlich, dass wir vieles momentan anders leben – und einiges wohl für immer anders bleiben wird. Was macht das mit der Berufung von Christen?
Nachdenklich gestimmte Person hält eine Bibel in der Hand

«Du bist an den Ort berufen, an dem sich deine tiefe Freude und der tiefe Hunger der Welt begegnen.» Diese Aussage seines Theologieprofessors Frederick Buechner stellt Desmond Henry seinem Artikel in «Christianity Today» voran. Wozu sind Christen in Zeiten von Pandemie und Ausgangsbeschränkungen berufen? Wie können sie der Krise begegnen, die vor ihnen selbst und den eigenen Kirchengebäuden nicht halt macht? Momentan erleben wir gerade eine Welle von Online-Aktivitäten: Vom Traugespräch über Gottesdienste bis hin zu Seelsorge und Abendmahl findet praktisch das gesamte Gemeindeleben virtuell statt. Doch die eigentliche Krise ist es weder, Kirche online zu leben, noch in einer Weile wieder in die Normalität zurückzufinden, behauptet Desmond Henry, ein leitender Mitarbeiter der Luis Palau Association. Es geht vielmehr darum, den Ort der eigenen Berufung zu finden. Das Folgende orientiert sich an drei Gedanken für Krisenzeiten wie die jetzige, die Henry äusserte.

1. Unsere Identität leben

«Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk des Eigentums, damit ihr die Tugenden dessen verkündet, der euch aus der Finsternis berufen hat zu seinem wunderbaren Licht» (1. Petrus-Brief, Kapitel 2, Vers 9).

Christsein bedeutet mehr als bei der Steuererklärung seinen Haken im entsprechenden Kästchen zu setzen. Henri Nouwen – Theologe und Autor – fasste dies so zusammen: «Jesus kam und verkündete uns, dass unsere Identität, wenn sie auf Erfolg, Popularität und Macht beruht, eine falsche Identität ist – eine Illusion! Laut und deutlich sagt er: 'Ihr seid nicht das, was die Welt aus euch macht; ihr seid Kinder Gottes'» (aus: Was mir am Herzen liegt).

Dieses grundsätzliche Angenommen-Sein führt dazu, dass Christen «eine neue Schöpfung» sind (2. Korinther-Brief, Kapitel 5, Vers 17). Sie mutieren dadurch nicht zu besseren Menschen, werden aber im besten Falle von Jesus Christus und seinem Wesen her verändert, entwickeln also Eigenschaften, die sie vorher nicht hatten. Paulus unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass sie gleichzeitig ihr eigentliches Selbst finden und von sich selbst wegschauen und andere neu wahrnehmen können: «Er [Christus] ist deshalb für alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben und auferstanden ist» (2. Korinther-Brief, Kapitel 5, Vers 15). Christen, die diese Identität leben, bekommen einen neuen Blick für ihre Mitmenschen – in Zeiten von Corona wird solch ein Lebensstil zwangsläufig auffallen.

2. Unsere Berufung annehmen

«So ermahne ich euch nun, ich, der Gebundene im Herrn, dass ihr der Berufung würdig wandelt, zu der ihr berufen worden seid» (Epheser-Brief, Kapitel 4, Vers).

Die Berufung eines Menschen muss in besonderen Umständen nicht enden. Der Apostel Paulus ist selbst ein gutes Beispiel dafür: Er war viel auf Reisen, gründete Gemeinden, schrieb Briefe und rief Menschen in die Nachfolge Gottes. Dann kam er ins Gefängnis. Und in dieser Situation – zeitweise war es wohl eher eine Ausgangssperre bzw. ein Hausarrest – tat er praktisch dasselbe wie vorher, bis aufs Reisen.

In diesem Sinn hinterfragt eine Krankheit wie Covid-19 die eigene Berufung: Sie steht eben nicht in erster Linie für Karriere und Verdienstmöglichkeiten, auch wenn Martin Luther in seiner Bibelübersetzung die «Berufung» eng an den «Beruf» anlehnte. Sie ist auch kein christliches Hobby, das man für gerade anstehende Hamsterkäufe von Nudeln und Toilettenpapier schon einmal unterbrechen kann. Die christliche Berufung ist vielmehr eine gottgegebene Leidenschaft, die nach Wegen sucht, den Himmel auf die Erde zu bringen.

3. Anderen mit unseren Gaben und Möglichkeiten dienen

«Dient einander, jeder mit der Gnadengabe, die er empfangen hat, als gute Haushalter der mannigfaltigen Gnade Gottes» (1. Petrus-Brief, Kapitel 4, Vers 10).

Es ist eine der meistunterschätzten biblischen Zusagen: dass alle Christen etwas zu geben haben, mit ihren Fähigkeiten etwas zum Allgemeinwohl und zur Ausbreitung des Evangeliums beitragen können. Doch gilt das auch in Zeiten der Isolierung und Kurzarbeit? Manche finden: Nein. Gerade hat der Leiter einer christlichen Zeitschrift in seinem Kommentar über die mögliche Rettung von Flüchtlingskindern betont, ob es «nicht auch angemessen sein [könnte], vorübergehend primär an die Menschen im eigenen Land zu denken». Nun lässt sich die Situation der Geflüchteten auf der Welt nicht mit einer einzelnen Aktion ändern, das Auswechseln des dauernden Egoismus gegen einen zeitlich begrenzten scheint allerdings auch kein Lösungsansatz zu sein.

Da ist es spannend, die Situation der ersten Christen zu sehen: Bedrängt und wirtschaftlich «herausgefordert» (um nicht zu sagen verarmt) standen sie vor grossen Unsicherheiten. Und ihre Reaktion? «Sie verkauften die Güter und Besitztümer und verteilten sie unter alle, je nachdem einer bedürftig war. Und jeden Tag waren sie beständig und einmütig im Tempel und brachen das Brot in den Häusern, nahmen die Speise mit Frohlocken und in Einfalt des Herzens; sie lobten Gott und waren angesehen bei dem ganzen Volk. Der Herr aber tat täglich die zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden» (Apostelgeschichte, Kapitel 2, Verse 45–47). Sicher ist dies nichts, was sich eins zu eins nachmachen lässt, aber es zeigt einen Weg, der viel mit der eigentlichen Berufung von Christen zu tun hat – mitten in der Krise.

So wünscht sich Desmond Henry: «Mögen die Christen in dieser Krise als diejenigen hervortreten, die sich durch Liebe und Gnade definieren, mögen wir kreative Wege finden, unsere Nachbarn zu ermutigen, Gastfreundschaft zu zeigen und grosszügig und aufopferungsvoll zu sein.»

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Datum: 16.04.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Desmond Henry / Christianity Today

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