Sexualerziehung: Just do it

Welterforscher und Doktorspiele

Kinder im Vorschulalter (vier bis sechs Jahre) entdecken im Spiel die Welt und verarbeiten durch Nachahmung, was sie erlebt haben. Rollenspiele sind top aktuell und viele Kinder erforschen in dieser Zeit neugierig den eigenen Körper und den ihrer Spielkameraden. Eltern erleben sich dabei oft verunsichert. Wie viel «Doktor spielen» ist normal? Tipps dazu von der Familienhelferin und Autorin Regula Lehmann.
Regula Lehmann
Buchcover «Sexualerziehung? Familiensache!»

Im Kinderzimmer ist es still. Etwas zu still, findet Mama und beschliesst, kurz vorbeizuschauen. Der fünfjährige Tim und seine gleichaltrige Freundin Mia spielen «Mama und Papa» und gerade ist «schlafen» an der Reihe. Eng aneinander gekuschelt liegen die beiden, nur noch mit der Unterwäsche bekleidet, im Bett. Etwas später ist dann «Doktor spielen» dran. Nachdem Mia mit dem Spielstethoskop Tims Rücken abgehört hat, beschliesst sie, dass es notwendig wäre, auch Tims Penis zu untersuchen. Weil Mia nur eine kleine Schwester hat, würde sie gerne wissen, ob Tim nackt gleich aussieht wie ihr Papa…

Sich durch Rollenspiele zuordnen und zurechtfinden

Was zwischen Mia und Tim abgeht, ist normal und altersentsprechend. Nachdem die Kinder den Unterschied zwischen den Geschlechtern entdeckt haben, befassen manche sich über einen längeren Zeitraum spielerisch mit diesem Thema. Dabei geht es nicht nur um den Körper, sondern auch um das sich Zuordnen und damit um Identitätsfindung.

Für den Jungen ist dieses Zuordnen in der Regel herausfordernder, weil er sich von der Mutter, mit der er durch die Schwangerschaft sehr eng verbunden ist, ablösen muss. Während die Mädchen jetzt «Mama spielen», sucht er den Anschluss an die «Männerwelt», die zwar faszinierend, aber zumindest ein Stück weit «fremder» ist. Dass Väter und andere männliche Bezugspersonen in diesem Prozess eine entscheidende, Sicherheit gebende Rolle spielen, liegt auf der Hand.

Kindliches Verhalten nicht sexuell interpretieren

Entscheidend ist, dass Eltern sich in die Welt ihres Kindes einfühlen, statt ihm aus der Erwachsenenperspektive heraus Absichten zu unterstellen, die es gar nicht verfolgt. Wenn Kinder «Doktor spielen», ist dies keine sexuelle Handlung, sondern neugieriges Erforschen. (In Erwachsenensinn «sexuelles Begehren» hängt mit der Ausschüttung von Sexualhormonen zusammen, die bei Kindern bis zum Einsetzen der Pubertät noch gar nicht ausreichend vorhanden sind.) Hilfreich ist es, Doktorspiele als Eltern gelassen zu begleiten und dabei vor allem die weniger durchsetzungsfähigen Kinder im Auge zu haben.

Schwächere Kinder vor Übergriffen schützen

Kein Kind soll Dinge an sich geschehen lassen müssen, die ihm unangenehm sind. Es kann durchaus Sinn machen, ein Doktorspiel unaufgeregt zu beenden, wenn wir merken, dass es einzelnen Kindern oder uns als Erziehenden dabei nicht wohl ist. Ein kleiner Imbiss oder das von uns bestimmte «Ende der Arztvisite» lösen das Spiel fürs Erste auf.

Möglicherweise macht es Sinn, sich mit den Eltern der Spielkameraden unserer Kinder zu beraten, wie viel Nacktheit und Experimentieren wir den Kindern zugestehen und wo die Grenze erreicht ist. Die Regelung, dass Unterwäsche beim Spielen nicht ausgezogen wird, kann durchaus Sinn machen, denn bereits kleine Kinder können ein ausgeprägtes Schamgefühl haben, das nicht verletzt werden soll.

Was bei Doktorspielen zu beachten ist

Kinder müssen wissen, dass der menschliche Körper nicht «Allgemeingut», sondern etwas Wertvolles und Privates ist. Klar sollte Kindern auch sein, dass Gegenstände nicht in Körperöffnungen eingeführt werden dürfen, weil dies eine hohe Infektions- und Verletzungsgefahr beinhaltet.

Doktorspiele gehören zu einem bestimmten Entwicklungsabschnitt von Kindern, in der Regel zur Vorschulphase. Will ein Neunjähriger noch immer «Doktor spielen», ist dies nicht mehr altersgerecht. Zudem sollte niemals ein Altersunterschied von mehr als ein oder zwei Jahren bestehen.

Gehen Doktorspiele über das neugierige Erforschen hinaus, ist ebenfalls erhöhte Aufmerksamkeit angesagt. Wenn Kinder Dinge imitieren, die sie eigentlich noch gar nicht wissen können, besteht begründeter Verdacht, dass einzelne Kinder bereits mit sexualisierten Bildern, Handlungen oder Pornografie konfrontiert wurden und dies nun im Spiel verarbeiten. Genaues Hinhören und unaufgeregtes Eingreifen ist im Zweifelsfall ein Muss und die Türe des Spielzimmers sollte bei jüngeren Kindern immer mindestens eine Türspaltbreite offen sein.

Kleine Entdecker und Nachahmer

Weil Vorschulkinder in der Regel imitieren, was sie hören oder erleben, ist es gerade in dieser Phase wichtig, ihnen nur das zu zeigen, zu erklären und vorzumachen, was für ihre Altersstufe auch nachahmens- und wünschenswert ist. Für alles weitere bleibt im Schulalter noch genügend Zeit.

Regula Lehmann ist verheiratet und Mutter von vier erwachsenen Kindern. Die gelernte Familienhelferin leitet die Ehe- und Familienprojekte der Stiftung Zukunft CH und arbeitet daneben freiberuflich als Referentin, Kursleiterin, Elterncoach und Autorin. Ihr Ratgeber «Sexualerziehung? Familiensache!» erschien 2011 im fontis-verlag.

Zum Thema:
Dossier Sexualerziehung
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Sexualerziehung: Das Kind – kein sexuelles Wesen?

Datum: 18.07.2019
Autor: Regula Lehmann
Quelle: Livenet

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