Leben ausserhalb der Blase

Warum ist ausgerechnet mein Nächster so anstrengend?

In unsicheren Zeiten suchen viele Menschen die Nähe von anderen mit ähnlichen Einstellungen. Sie unterstützen sie und lassen sich selbst von ihnen bestärken. Damit bewegen sie sich in ihrer «Blase». Sie gewinnen Sicherheit, verlieren aber Lebensqualität durch echte Begegnung, die nicht an einer unterschiedlichen Meinung scheitert. 
Zwei ältere Herren beim Kaffee trinken

Der klassische Grenzüberschreiter beim Zugehen auf Menschen aus völlig unterschiedlichen Kontexten ist übrigens Jesus. Bibelleser wird das nicht besonders überraschen. Aber ein Blick in unsere Situation und in die von Jesus kann uns dabei helfen, nicht in unserer «Blase» steckenzubleiben.

Willkommen im Heute

Horst will sich über den aktuellen Fleischskandal bzw. die Auswirkungen auf die Corona-Pandemie informieren. Natürlich schlägt er dazu die FAZ auf – und nichts anderes. Urs tut dasselbe, allerdings vertraut er in erster Linie der taz. Klingt ähnlich, ist aber politisch auf der anderen Seite des Spektrums angesiedelt. Verwerflich ist nichts davon, allerdings ist es typisch, sich hauptsächlich bei seinen Lieblingsmedien zu informieren.

Kirsten hat ein Problem mit Ellen. Die hat ihr vorgeworfen, sie wäre so verletzend direkt. «Selber», denkt sich Kirsten und ruft mal eben schnell Conny an, um mit ihr darüber zu reden. Denn Conny – da ist sie sich sicher – ist ganz auf ihrer Seite. Auch nicht verwerflich, allerdings wird es schwierig, wenn man nur noch Zustimmung sucht und nicht mehr Ehrlichkeit.

Natürlich sind diese Verhaltensweisen nicht neu. Aber durch die Kombination aus persönlicher Begegnung und weltweiter Vernetzung per Internet entfalten sie eine ganz neue Wirksamkeit.

Die Suche nach Gleichgesinnten

Zwei Begriffe, die dies beschreiben, sind «Filterblase» und «Echokammer». Ganz kurz: Die Filterblase ist eine Wortschöpfung des Internetaktivisten Eli Pariser. Er bezeichnet damit den Vorgang, dass Suchmaschinen im Internet die Auswahl der angezeigten Suchergebnisse an das anpassen, was die Menschen vor ihren Computern höchstwahrscheinlich sehen wollen. Wer «Giessen» sucht, dem wird automatisch die mittelhessische Stadt angezeigt. Sie hat immerhin 88'000 Einwohner. Nach Giessen im Bodenseekreis (31 Einwohner) muss man dagegen länger suchen. Was in solchen Sachfragen noch einleuchtet, wird bei Wertefragen schnell ein Problem. (Übrigens: In der Deutschschweiz wurde «Filterblase» 2016 zum «Wort des Jahres» gewählt.)

Der Journalist Jens Berger beschreibt das Phänomen der «Echokammer» folgendermassen: «Mit Echokammer wird dabei das Phänomen beschrieben, dass viele Menschen in den sozialen Netzwerken dazu neigen, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben und sich dabei gegenseitig in der eigenen Position zu verstärken. In den Netzwerken selbst bildet sich dadurch eine fatale Dynamik. Befeuert durch die Echokammer verbreiten sich nicht nur konsensfähige Inhalte, sondern auch Kommentare innerhalb der Netzwerke wie ein Lauffeuer. Wer den Konsens der Gruppe am Besten trifft, wird 'geteilt' und 'gelikt' und kriegt aus anderen, harmonierenden Kreisen Freundschaftsanfragen.»

Um das klarzustellen: Es ist nichts dagegen einzuwenden, sich mit Menschen zu umgeben, die ähnliche Einstellungen haben. Es spricht allerdings viel dagegen, das ausschliesslich zu tun.

Grenzgänger Jesus

Wie ist eigentlich Jesus damit umgegangen, dass er 'gelikt' oder 'gehatet' wurde? Natürlich hat er sich nur im ländlichen Raum bewegt und musste nicht mit einer weltweiten Internet-Dynamik umgehen. Aber Jesus war in der Tat viel schneller beim 'Befreunden' als beim 'Entfreunden'. Als Beispiel dazu mögen zwei seiner Besuche auf dem Weg nach Jerusalem vor der Kreuzigung dienen. Beide finden an einem gedeckten Tisch statt, dem Inbegriff guter Gemeinschaft und tiefer Gespräche.

Dabei besuchte Jesus einen «Obersten der Pharisäer» (Lukas, Kapitel 14, Vers 1ff). Erstaunlich ist weniger, dass Jesus mit ihm und den anderen Gästen diskutierte, sondern dass er selbst mit Blick auf seine bevorstehende Kreuzigung den Kontakt zu Andersdenkenden suchte.

Genauso besuchte Jesus einen Oberzöllner – Inbegriff des Sünders, verhasst bei den meisten Menschen – und lud sich dort sogar aktiv ein: «Zachäus, steige schnell herab; denn heute muss ich in deinem Haus einkehren!» (Lukas, Kapitel 19, Vers 5). Dort ist nicht die Rede von kontroversen Gesprächen, aber von Lebensumkehr und Veränderung, obwohl das Klischee klar besagt, dass «so einer» nie auf der eigenen Freundesliste stehen sollte.

Die andere Meinung hören

Die beiden kurzen Bibelstellen sagen nicht alles über den Umgang mit anderen Meinungen. Sicher ist es auch immer wieder einmal notwendig, den Kontakt zu jemandem abzubrechen – sei das online oder im realen Leben. Tatsache ist jedoch, dass Gespräche mit Andersdenkenden wesentlich häufiger stattfinden könnten, als sie es tun. Denn sie machen Arbeit, sie fordern heraus, sie holen uns aus der Komfortzone – und sie bereichern das Leben.

Symptomatisch für diese Haltung, in der auch Jesus immer wieder das Gespräch mit Menschen suchte, ist der Leserbrief, den ein Engländer an seine Tageszeitung schickte: «Bei den Kommentaren der Samstagsausgabe waren einige, denen ich eindeutig widersprechen möchte. Machen Sie weiter mit Ihrer guten Arbeit. Alan Hawkes» (Netzfund).

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Datum: 27.06.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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