Arbeiten im Gotteshaus

Warum diese Journalisten drei Tage in der Kirche arbeiten

Es ist ein besonderes Projekt, das sich ein Züricher Kirchenverein ausgedacht hat: Unterschiedliche Firmen sollen ihren Arbeitsplatz mit dem sakralen Raum tauschen – und im Kirchenschiff ihrem Tagewerk nachgehen. Trotz Vorbehalten nahm die Möglichkeit als erstes die Redaktion des Tagesanzeigers wahr.
Von Montag bis Mittwoch gingen Journalisten in der St.-Peter-Kirche in Zürich ihrer Arbeit nach
Präsidentin des «Vereins St. Peter» und Projektleiterin Annina Hess-Cabalzar (l.) im Gespräch

Der kirchliche «Verein St. Peter» in der Schweiz lädt Unternehmen dazu ein, ihren Arbeitsplatz für ein paar Tage in das Gotteshaus zu verlegen. Das Experiment läuft unter der Überschrift «Werktags in der Kirche St. Peter». Und so war von Montag bis Mittwoch das Zürich-Ressort des Tagesanzeigers nicht in seinen Redaktionsräumen, sondern in den sakralen Räumen aktiv.

Projektleiterin Annina Hess-Cabalzar und ihr Team wollen im Rahmen des neu gestarteten Projektes unter anderem herausfinden, ob «die Kirche im Alltag der säkularen Gesellschaft ein besonderer Raum ist und welchen Einfluss der Kirchenraum auf das Arbeitsklima hat». Zudem sollen die Fragen beantwortet werden, «ob der besondere Raum die Kreativität, die Konzentration fördert oder verhindert und ob bei der Arbeit für Einzelne die ,eigene Kirchengeschichte‘ eine Rolle spielt». Um Missionierung solle es nicht gehen, erklärte Hess-Cabalzar in einem Interview.

Insgesamt sieben Folgen soll die Serie haben. Los ging es mit den Medienmachern. Die anderen teilnehmenden Firmen stehen noch nicht fest. Wie das Onlinemagazin persoenlich.com berichtet, kann sich die Initiatorin auch vorstellen, Banken, Psychologen oder eine Beratungsfirma in der Kirche arbeiten zu sehen. Sie möchte herausfinden, «inwiefern der Raum andere Arbeitsergebnisse zu Tage fördert als die gewohnte Umgebung».

Die Züricher Kirche stand während des Experiments «wie immer» für alle Menschen offen, Besucher waren laut Verein willkommen. Mit den Journalisten sollten sie ins Gespräch kommen. Und die Gäste kamen und stellten Fragen. Redakteurin Helen Arnet erklärte dem Onlinemagazin persoenlich.com: «Es ist hier im Vergleich zur Redaktion schwieriger, sich zu konzentrieren, denn es kommen immer wieder Leute, die mich unterbrechen.» Dies störe sie nicht, sie erkläre gern. Sie empfindet es als spannend, mit den Lesern in Kontakt zu treten. Es kämen vor allem Ältere vorbei, die die gedruckte Ausgabe lesen. Die Aktion sieht Arnet «als eine Art PR für den Journalismus», sagte sie dem Magazin.

Schimpfworten und gesprochener Sprache bewusst werden

Die Frage, ob die Tagesanzeiger-Redaktion nicht einfach eine PR-Aktion des «Vereins St. Peter» unterstützte, weist Susanne Anderegg zurück. Die Koordinatorin der Tagesanzeiger-Zürich-Redaktion erklärte laut persoenlich.com: «Diese Kirche steht mitten in Zürich, im Zentrum der grössten Schweizer Stadt und ist zudem ein Touristen-Magnet. Daher ist es spannend, hier journalistisch zu arbeiten.» Das Projekt biete die Möglichkeit, spontan mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu kommen. Unter den Redakteuren habe es auch kritische Stimmen gegeben: Manche sahen eine Verknüpfung zur Kirche nicht, andere fanden das Projekt nicht sonderlich innovativ. Anderegg wollte etwas Neues wagen: Es sei das erste Mal, dass die gesamte Redaktion ausser Haus arbeite.

Zur Arbeit in der Kirche schreibt die Redaktion online: «Einen Text zu schreiben, wenn rundum viel Trubel herrscht, ist für grossraumbüroerprobte Ressortmitglieder kein Problem. Ohrenstöpsel rein oder Kopfhörer auf, Musik an, los geht’s.» Was allerdings im Büro funktioniere, wirke im Kirchenschiff eher abweisend. «Einige von uns lassen die gewohnte Abschottung weg, um mit den Besucherinnen und Besuchern ins Gespräch zu kommen.» Die Diskussionen drehten sich dabei nicht nur um den Arbeitsalltag einer Redaktion, sondern um Grundsätzliches – wie etwa die Macht der Medien.

«Mehr aus spirituellem Reichtum der Kirche herausholen»

Weiter heisst es im Tagesanzeiger-Ticker: «Wenn man so in einem Kirchenschiff arbeitet, wird einem erst richtig bewusst, wie oft ein Schimpfwort über die Lippen kommt. ,Sch***e, jetzt habe ich schon wieder geflucht‘, entfährt es einer Redaktorin.» Es sei «ganz heilsam, sich auch mal wieder über die gesprochene Sprache bewusst zu werden». Und wenn ein Fluchwort in der Kirche widerhalle, melde sich das schlechte Gewissen viel schneller als in der Redaktionsstube.

Der Tagesanzeiger berichtet auf seiner Internetseite über die Aktion. Ursula Jenal, eine Leserin des Blatts und freiwillige Helferin der Kirchengemeinde, sagte laut der Zeitung: «Die Aktion, diese Vernetzung ist grossartig. [...] Es geht auch um die Frage, wie man mehr aus diesen Räumen und aus dem spirituellen Reichtum der Kirche herausholen kann. Da liegt ein gewaltiges Potenzial brach.»

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Datum: 19.07.2019
Autor: Martina Blatt
Quelle: PRO Medienmagazin | www.pro-medienmagazin.de

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