«Kaum zur Kenntnis genommen»

Vertreibung von Christen: Sonntagszeitung spricht Klartext

Menschen auf der Flucht
Unter dem Thema «Das Drama der Christen im Nahen Osten» wirft die Schweizer «Sonntagszeitung» vom 8. Dezember einen nüchternen Blick auf den Rückgang der Christen in der Region – ausgehend von Syrien.

«Ein Drama, das von der internationalen Gemeinschaft kaum zur Kenntnis genommen wird»: Die Präsenz der Christen im Nahen Osten hat in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Entwicklung genommen, wie die «Sonntagszeitung» offenlegt: «In Syrien waren 1970 noch 10 Prozent der Einwohner Christen, heute sind es 1,2 Prozent.» Aleppo zum Beispiel war vor 2011 mit 250`000 Christen eine «christliche Hochburg». Heute leben noch rund 20`000 Christen in der Stadt. «In anderen Ländern sieht es ähnlich aus. Im Libanon sank der Anteil von über 50% auf 32, im Irak von 4 auf 0,4%», erklärt Redaktor Rico Bandle.

Naher Osten: von 15 auf 4 Prozent – Spitzenreiter Türkei

Zwischen 1500 und 1900 habe der Anteil von Christen im Nahen Osten «mehr oder weniger konstant» rund 15 Prozent betragen. Die politischen und sozialen Umwälzungen des 20 Jahrhunderts – Weltkriege, der Aufstieg islamistischer Gruppierungen und zahlreiche Bürgerkriege – habe Auswanderung und Vertreibung von Christen befeuert. Heute beträgt der Anteil der Christen in der gesamten Region weniger als 4%.

Spitzenreiter der Negativ-Hitliste: die Türkei. Vor dem ersten Weltkrieg lebten 22 Prozent Christen im Land. Beim Völkermord an den Armeniern «wurde fast die gesamte christliche Bevölkerung ausgelöscht oder vertrieben». Heute leben noch ein Hundertstel an Christen im Land: 0,2 Prozent. In Ägypten, dem Libanon und Syrien habe der «Grosse Exodus» an Christen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen, «und er hält bis heute an», so die Sonntagszeitung.

Keine Lust auf mittelalterliche Zustände

Wo Islamisten die Macht ergreifen, werden Christen nicht immer automatisch vertrieben oder getötet. Die «Ungläubigen» würden aber – dem Koran folgend – zu «Bürgern zweiter Klasse» degradiert: Sie dürften vor Gericht nicht gegen Muslime aussagen, müssten mehr Steuern zahlen und ihren Glauben nicht öffentlich leben. Viele Christen hätten keine Lust auf derart «mittelalterliche Zustände» und zögen weg. Dazu kommt: Die Christen in der arabischen Welt seien im Vergleich zur Gesamtbevölkerung «weit besser gebildet», was zu mehr Wohlstand führe. Frauen hätten mehr Rechte, sie hätten weniger Kinder – all das führe zu besseren Möglichkeiten zur legalen Einwanderung in westliche Länder.

Westen nicht ganz unschuldig

Am Rückgang der Christen im Nahen Osten seien aber auch die USA und ihre Alliierten «nicht ganz unschuldig»: Immer wieder hätten sie auf islamistische Gruppen gesetzt, etwa wenn es darum ging, unliebsame Diktatoren wie Hussein, al-Ghadhafi und Assad zu beseitigen. Ironie der Geschichte: Für religiöse Minderheiten wie Christen seien solche Diktatoren oft das kleinere Übel als islamistische Kämpfer: «Denn die beuten alle gleichermassen aus.» Unsicher, ob der gegenwärtige Machtwechsel in Syrien diese Logik für einmal durchbreche.

Warum es niemanden interessiert

Der Artikel wirft auch einen Blick auf die Gründe, warum im Westen das Schicksal von 365 Millionen unterdrückten und verfolgten Christen – auch in Afrika und Asien – kaum je zum öffentlichen Thema wird. Joel Veldkamp von Christian Solidarity International (CSI), der mehrfach zitiert wird, gibt zwei Hauptgründe für diese Verdrängung an: Einmal das schlechte Gewissen des Westens wegen des Kolonialismus, vor allem Muslimen gegenüber; zum anderen die geopolitischen Machtinteressen: «Im Kampf um Einfluss und Kontrolle im Nahen Osten kann eine Kooperation mit islamistischen Gruppen sehr nützlich sein, Christen sind diesbezüglich überhaupt kein Faktor.»

Beispiel Aserbaidschan

Wie sehr die Welt bei der Christenverfolgung wegschaut, zeige das Beispiel Aserbaidschan: «Im Herbst 2023 vertrieb das Land innerhalb von 6 Tagen 120000 armenische Christen aus der Region Berg-Karabach und eliminierte damit in Rekordzeit eine seit 1700 Jahren bestehende Religionsgemeinschaft. Ein Jahr später fand in Aserbaidschan die Weltklimakonferenz statt, Vertreter aus allen Ländern versammelten sich in Baku – als ob nichts gewesen wäre.»

Christen seien die grösste, aber nicht die einzige von Verfolgung und Vertreibung betroffene Minderheit im Nahen Osten: Das jüdische Leben in muslimischen Ländern sei «fast gänzlich verschwunden», auch Jesiden und Aleviten werden geächtet und verfolgt.

Auf der anderen Seite sei in einigen Golfstaaten «eine gegenteilige Tendenz festzustellen», jedenfalls an der Oberfläche: Länder wie die Vereinigen Arabischen Emirate, Saudi Arabien und Katar gäben sich liberal und liessen Christen und Juden einwandern. Andererseits gehören sie mit ihren Ölmilliarden «zu den Hauptverantwortlichen für die Verfolgung von Minderheiten in vielen muslimischen Ländern», indem sie den fundamentalistischen Wahabismus und die Ausbreitung von islamistischen Terrororganisationen wie Al-Kaida, IS und Hamas fördern.

Syrien: Christen misstrauisch

Zurück zur aktuellen Lage in Syrien. Die Sonntagszeitung zitiert Joel Veldkamp von CSI, der seine Doktorarbeit über die Christen in Aleppo geschrieben hat und mit mehreren Familien vor Ort in Kontakt steht. «Im Moment werden sie noch in Ruhe gelassen», sagt er. Vertreter der siegreichen HTS hätten öffentlich gelobt, Minderheiten zu tolerieren und zu schützen. Aber laut Feldkamp trauten viele Christen diesem Versprechen nicht. «Die HTS buhlt um die Gunst der Weltöffentlichkeit, deshalb gibt sie sich noch moderat.» Veldkamp ist wenig optimistisch: «Ich glaube, es ist bloss eine Frage der Zeit, bis die Repressionen losgehen.» Die nächsten Wochen werden es zeigen.

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Datum: 11.12.2024
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / SonntagsZeitung

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