Zerreissprobe Gemeindealltag

Roland Mahler: «Menschen sind immer mehr als das, was sie tun»

Wie ist es für eine Gemeinde möglich, in heutigen Spannungsfeldern Einheit zu bewahren? Dieser Frage spürte der Psychotherapeut Roland Mahler in seinem Referat an der Delegiertenversammlung der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA vom 17. Mai 2019 in Zürich nach.
Roland Mahler an der SEA-Delegiertenversammlung vom 17.05.2019 in der ETG Zürich.
SEA-Präsident Wilf Gasser und Referent Roland Mahler.
Roland Mahler

Mit der Wortkonstruktion «ZerrEINSprobe», die den Wunsch von Einheit trotz allen Spannungen beinhaltet, betitelte die SEA ihr Schwerpunktthema der diesjährigen Delegiertenversammlung. In der Gründungszeit der Weltallianz 1846 habe die Frage der Sklavenhaltung die Geister gespalten, sagte SEA-Präsident Wilf Gasser in der Begrüssung zum Anlass. «Heute sind es eher sexualethische Fragen, die in unseren Gemeinden zu Zerreissproben führen», so der Theologe und Sexualtherapeut.

Möglichst «Jesus-zentriert» manövrieren

In Workshops liess er die Vertreter der Gemeinden und regionalen Allianzen über Fallbeispiele zu Themen wie Homosexualität und Dienst, Solo-Sex, Geld, Jugendschwangerschaft, Sterbehilfe usw. diskutieren.

Als Evangelische Allianz sehe man sich nicht in der Rolle, auf diese Fragen pfannenfertige Antworten zu liefern, betonte Wilf Gasser. Aber man wolle Gemeinden und christlichen Organisationen helfen, in den Herausforderungen möglichst gut und «Jesus-zentriert» zu manövrieren.

Dazu sollte auch das Referat des psychotherapeutischen Psychologen Dr. theol. Roland Mahler dienen, welches Livenet hier in groben Zügen zusammenfasst:

«Sexualität: ein spannungsvolles Gebiet»

Wenn man über Normen in den christlichen Gemeinschaften spreche, müsse man stets bei sich selbst anfangen, schickte Roland Mahler gleich voraus. Die eigene Betroffenheit spiele eine wesentliche Rolle, wenn man das Verhalten anderer Menschen beurteile: «Die grösste Abwehrhaltungen haben wir bei Dingen, die wir selbst in unserem Leben in Schach halten müssen.» Er habe 80-90 Prozent Christen in seinen Beratungen und wisse daher, dass die Sexualität ein spannungsvolles Gebiet sei – «auch unter sogenannten Vorzeigechristen wie z.B. Gemeindeleitern». Sie hätten nicht selten mit Pornografie oder anderen Versuchungen zu kämpfen.

«Wir müssen also bei uns selbst beginnen», so Mahler. Jeder Mensch sei zuerst herausgefordert, all die verschiedenen Tendenzen in sich selbst wahrzunehmen und damit einen Weg zu finden. Von diesem Ausgangspunkt könne man sich dann mit weiteren Fragen beschäftigen.

«Sind wir nicht alle seltsam?»

Und der Theologe und Psychotherapeut ging noch einen Schritt weiter, indem er etwas provokativ feststellte, dass dieser Anteil des nicht Normierten zu uns allen gehöre. «Sind wir nicht alle Teil einer geschöpflichen Diversität? Oder anders gefragt: Sind wir nicht alle seltsam?»

Es gehe um ein Miteinander in der Diversität. Dies sei auch bei der Auseinandersetzung mit biblischen Texten entscheidend, findet Roland Mahler. «Bei der Hermeneutik grundlegender biblischer Texte geht es darum, sie so in die Gegenwart zu übersetzen, dass sie immer noch dynamisch und lebendig sind. Der individuelle Weg der Geschöpfe in der zerbrochenen Schöpfung sollte seiner Meinung nach gleichberechtigt neben dem traditionellen Ideal christlicher Gemeinschaft stehen. «Statt eine fixe Doktrin zu verfolgen sollten wir vielleicht eher ein dynamisches Denken pflegen. Denn jeder Mensch entwickelt sich im Lauf seines Lebens und ist in einer Bewegung der Selbstklärung. Immer.»

Was bedeutet dies für die Praxis?

Grundsätzlich könne man in der praktischen Anwendung auf beiden Seiten vom Pferd fallen. Die eine Seite sei die Gesetzlichkeit, die sich an (zu) hohen und starren Idealen orientiert. Auf der anderen Seite sei der Libertinismus, so Mahler. «Der Libertinismus funktioniert nach dem Motto: es spielt doch alles keine Rolle. Du kannst machen, was du willst.» Damit sei den Menschen natürlich auch nicht gedient. Vielmehr sei anzustreben, zwischen diesen beiden Polen auszubalancieren. «Wir sollten schauen, das Gleichgewicht zu halten.»

Das Risiko, Fehler zu machen, gehöre dazu, ergänzte der Psychotherapeut und verwies dabei auf das bekannte Zitat des Zürcher Reformatoren Zwingli, doch lieber «um Gottes Willen etwas Tapferes zu tun».

Die junge Frau mit dem Männerbesuch

Als Beispiel berichtete Mahler von einer Situation in einem christlichen Wohnheim, in dem eine junge Frau nachts immer wieder Männer mit ins Zimmer nahm, wo es dann zu sexuellen Handlungen gekommen sei. «Am Morgen lagen oft auch leere Wein- und Bierflaschen im Zimmer verteilt herum.» Nun war die Frage, ob man diese junge Frau aus dem Wohnheim ausweisen oder wie man sonst reagieren sollte. Da machte eine Therapeutin den Vorschlag, im Eingangsbereich ein Begegnungszimmer einzurichten, in dem Männerbesuche offiziell erlaubt sind. «Natürlich führte dieser Vorschlag zu heftigen Diskussionen, weil Sex vor der Ehe, Sex ohne Ehe oder Sex zum Vergnügen ja nicht gerade dem christlichen Ideal entsprechen.»

Trotz der Vorbehalte entschied man sich für eine dreimonatige Probezeit mit diesem Begegnungszimmer. Es sei eine mutige Lösung gewesen, die der jungen Frau aber die Möglichkeit gab, sich zu entwickeln. Roland Mahler: «Mit diesem Versuch, im Sinne des Geschöpflichen etwas mehr Ordnung hineinzubringen, bekam diese Frau die Chance für einen Lernprozess im Umgang mit der Sexualität. Das war sicher ein Schritt in die richtige Richtung.»

Vorläufige Wiederherstellung und Gerechtigkeit

Roland Mahler plädierte an der Delegiertenversammlung der SEA für eine Orientierung am jüdisch-christlichen Grundmotiv von Schöpfung, Bruch und Wiederherstellung. Schöpfung heisse immer auch Ordnung, nicht Chaos. «Geschöpflichkeit bedeutet: es besteht eine Ordnung, die es zu schützen und zu bewahren gilt.» Diese Ordnung habe so viele Risse wie es Menschen gibt, so Mahler weiter. Trotzdem lohne es sich, in diesem Raum, der keine klaren Koordinaten mehr habe, zu ordnen. Man bezeichne dies als «vorläufige Wiederherstellung oder vorläufige Gerechtigkeit», die nur bruchstückhaft sei. «Endgültige Gerechtigkeit können wir nicht machen, aber wir können daran glauben.»

Die Bedürftigkeit des Menschen erfordere eine vorläufige Gerechtigkeit auf der Basis einer Unterscheidung von Person und Werk, fuhr der Theologe fort. «Menschen sind immer mehr als das, was sie tun! Gott sieht stets noch anderes in ihnen.» Diese Feststellung verknüpfte Mahler mit der Empfehlung, als christliche Leiter die Menschen auch nicht auf ihr Tun zu reduzieren, sondern ihre Einzigartigkeit zu sehen. «Auf diese Gnade, dass wir nicht nur an unseren Werken gemessen werden, hoffen wir ja am Ende alle, wenn wir vor Gott stehen.»

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Datum: 18.05.2019
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet

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