Neue Perspektive auf Römerbrief

Es geht um viel mehr als «meine» Rettung

Wer die Bibel als Gottes Wort sieht, nimmt sie ernst. Und meist auch sehr persönlich. Doch diese bibeltreue Perspektive kann schnell einseitig werden, denn die Bibel wurde nicht an westliche Individualisten geschrieben. Am Beispiel des Römerbriefs weist der Theologe und Missionar Jason Georges darauf hin, wie leicht westliche Leser den Brief des Paulus missverstehen können – und wie eine östliche Sichtweise dies korrigieren kann.
offene Bibel auf einer Holzbank
Jason Georges

Wenn wir heute den Römerbrief aufschlagen, tun wir das nicht neutral. Wir lesen ihn durch die Brille der Reformation und finden darin Luthers Suche nach einem gnädigen Gott. Wir lesen ihn durch die Brille zahlloser Prediger, die einzelne prägnante Verse hervorheben und damit zu einer persönlichen Jesusnachfolge herausfordern. Beides ist nicht verkehrt – aber es ist einseitig und braucht Ergänzung. Darauf weist Jason Georges in einem Artikel des US-Magazins «Christianity Today» hin. Der Missionar im Nahen Osten hat Jackson Wu interviewt, den Autor des Buchs «Reading Romans with Eastern Eyes» (Der Römerbrief mit den Augen des Ostens). Beide gehen davon aus, dass das Umfeld des Apostels Paulus den östlichen Schamkulturen deutlich näher ist als unserer heutigen westlichen Welt. Mit spannenden Folgen …

Gerechtigkeit, aber auch Ehre und Scham

Aus westlicher Perspektive dreht sich der Römerbrief hauptsächlich um die Frage der persönlichen Gerechtigkeit. Darum, dass ich als Einzelner vor Gott von Natur aus nicht gerecht bin: «Es ist keiner gerecht, auch nicht einer» (Römer, Kapitel 3, Vers 10). Darum, dass ich als Einzelner zwar den Tod verdient hätte, «aber die Gnadengabe Gottes ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn» (Römer, Kapitel 6, Vers 23). Und schliesslich darum, dass jeder Einzelne, «der den Namen des Herrn anruft», gerettet wird (Römer, Kapitel 10, Vers 13).

Diese Art, mit anderen Menschen übers Evangelium zu reden, funktioniert bei uns im Westen. Georges und Wu jedoch beobachten, dass sie im Fernen Osten hauptsächlich zu Missverständnissen führt. Die Menschen in Ostasien sprechen viel eher auf Themen wie Ehre, Scham oder Gruppenidentität an. Themen, die im Römerbrief prominent vorkommen – die wir als Westler nur kaum wahrnehmen. Es geht schon in den ersten Kapiteln damit los, dass die Vorzüge der Juden beschrieben werden, doch gleichzeitig unterstrichen wird, dass die Heiden nicht weniger wert sind. Diese Argumentationslinie durchzieht den gesamten Brief bis zum Schluss, in dem Paulus seinen Empfängern (stolzen Römern, die griechisch geprägt sind) nahelegt, ihn finanziell dabei zu unterstützen, um die «Barbaren» in Spanien zu erreichen (Römer, Kapitel 15, Vers 24). Doch auch Gottes Ehre spielt eine zentrale Rolle. Seine Verheissung an Abraham, alle Nationen zu segnen, steht im Mittelpunkt der Theologie des Paulus. Kann und wird er sein Versprechen halten? Oder müssen Heiden zunächst einmal Juden werden, um zu Gott zu gehören? Dann würde die Zusage Gottes aus 1. Mose, Kapitel 12, Vers 3 nicht mehr gelten, nach der «alle Geschlechter auf der Erde» gesegnet sind.

Eine Frage der Ehre sind auch etliche Aussagen zur Rettung wie der bereits erwähnte Vers in Römer, Kapitel 10, Vers 13. Dort wird der alttestamentliche Prophet Joel zitiert (Joel, Kapitel 3, Vers 5). Spannend ist hier der Zusammenhang, denn zweimal unterstreicht Joel direkt davor: «Mein Volk soll nie mehr zuschanden werden» (Joel, Kapitel 2, Vers 26–27). Wer einmal damit anfängt, beim Lesen des Römerbriefs auf Scham und Ehre zu achten, der wird sich fragen, wie er bisher an diesem zentralen Thema vorbeischauen konnte.

Einzelne, aber auch kollektive Identität

Der pietistische Schwerpunkt auf dem eigenen Glauben und die persönliche Entscheidung dafür ist eine echte Bereicherung für viele Christen – gleichzeitig sind sie bis heute eine schwierige Engführung. Es mag viele überraschen, aber der Begriff und die Idee der «persönlichen Entscheidung» kommt so nicht in der Bibel vor. Da ist eher die Rede davon, dass «ich aber und mein Haus» dem Herrn gemeinsam dienen wollen (Josua, Kapitel 24, Vers 15). Und wer seine individualistische Brille einmal absetzt, sieht auch im Römerbrief vieles, was sich um die Frage dreht: Wer ist eigentlich Gottes Familie?

Westliche, aber auch östliche Perspektive

Die Ideen von Ehre, Schamkultur oder Gesichtsverlust sind längst nicht nur in fernöstlichen Kulturen zu Hause. Das betonen Georges und Wu mit Blick auf den Römerbrief in unsere westliche Gesellschaft hinein. Indem wir bewusst eine «östliche» Perspektive suchen, wird uns dies allerdings leichter bewusst. Als Christen glauben wir an den lebendigen Gott, den wir ehren wollen. Gleichzeitig verwandelt das Evangelium unsere Sicht auf das, was lobenswert oder schamvoll ist. Christus definiert Ehre oder sozialen Status völlig neu. Das Lesen des Römerbriefs zeigt uns auch die zentrale Bedeutung der Kirche und unsere gemeinsame Identität als Nachfolger von Christus. Erlösung bewirkt nämlich mehr als eine Verwandlung unserer (einzelnen) Herzens, sie verändert auch uns als Gemeinschaft.

Der Text hier kann nicht mehr sein als ein Appetithappen. Das (leider nur englischsprachig erhältliche) Buch von Jackson Wu vertieft das Thema deutlich. Aber auch ein bewusstes Lesen des Römerbriefs unter den oben gezeigten Vorzeichen wird jeder Leserin und jedem Leser neue Horizonte eröffnen. Den Paulusbrief einmal durchzulesen dauert übrigens nicht mehr als anderthalb Stunden.

Zum Thema:
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Datum: 12.09.2019
Autor: Hauke Burgarth / Jason Georges
Quelle: Livenet / Christianity Today

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