Wenn Steine leben
Manche Menschen haben sie auf ihren Fensterbänken stehen: Lithops. Lebendige Steine. Die Pflanzen sehen den grössten Teil des Jahres so aus wie dicht neben der Mitte gebrochene Kieselsteine. Aber im Herbst scheinen sie aufzuplatzen und plötzlich spriessen mitten aus diesem tot aussehenden Gebilde Blüten. Wenn der Apostel Petrus in seinem Brief etwas von lebendigen Steinen schreibt, dann meint er natürlich nicht die Sukkulenten aus Südafrika, aber er zeigt etwas ähnlich Paradoxes: «Da ihr zu ihm gekommen seid, zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen zwar verworfen, bei Gott aber auserwählt und kostbar ist, so lasst auch ihr euch nun als lebendige Steine aufbauen, als ein geistliches Haus, als ein heiliges Priestertum, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus.» (1. Petrus, Kapitel 2, Vers 4-5)
Steiniges in der Bibel
In der Antike in Israel war die Mehrzahl der Häuser nicht aus Steinen gemauert. Trotzdem ist in der Bibel an vielen Stellen von Steinen oder auch Bausteinen die Rede – oft im bildlichen Sinne. Mal stehen sie für Strukturen. Im ersten Gebäude, das in der Bibel beschrieben wird, dem babylonischen Turm, für eine gefestigte Haltung gegen Gott; im letzten Gebäude, dem «Neuen Jerusalem» für den bleibenden Wohnort Gottes und seiner Menschen. Steine stehen auch für Härte, Festigkeit und Stabilität. Das kann negativ gemeint sein, wie im Buch Hesekiel, wo Gott verspricht: «Ich will das steinerne Herz aus ihrem Leib nehmen und ihnen ein fleischernes Herz geben» (Hesekiel, Kapitel 11, Vers 19); es kann aber auch positiv gemeint sein wie im häufigen Bild vom Eckstein (Jesaja Kapitel 28, Vers 16), das auch auf Christus bezogen wird als ein für viele überraschend tragfähiges Fundament.
Im oben beschriebenen Text wird das Bild des Steins fast inflationär verwendet, wenn Petrus (der Felsen) beschreibt, dass Menschen zu Jesus (dem Eckstein) kommen, um auf ihm als lebendige Steine aufgebaut zu werden.
Leben oder Struktur?
Dabei spielt Petrus mit dem statischen Bild von Steinen. Was sind sie denn nun? Stabil und strukturiert oder beweglich und lebendig? Petrus scheint seinen Leserinnen und Lesern zuzuzwinkern: «Na, beides.» Wer sich durch Jesus in das «Haus» seiner Gemeinde einbauen lässt, der erfährt es hautnah, dass zwar Struktur ohne Leben möglich ist, aber auf der anderen Seite jedes Leben Struktur hervorbringt. Für das Zusammensein als Christen reicht die Form nicht aus. Christ ist also nicht, wer «hineinpasst», sondern wer lebt. Dieses Bild war damals wahrscheinlich leichter verständlich als heute, wo Häuser mit Porenbetonsteinen gemauert werden, die exakt 60 x 20 x 15 Zentimeter gross sind. Ohne Unterschied und Raum für Individualität. Früher waren die Mauersteine eines Hauses meist verschieden geformt und wurden entsprechend bearbeitet, damit sie zusammenpassten. Kleine und grosse, eckige und runde fanden alle Verwendung.
Konstruktive Kirche
In diesem Moment verlässt Petrus das Bild. Plötzlich geht es ihm nicht mehr um die Passform der lebendigen Steine, sondern um das, was sie tun: wie ein Priester für Gott und Menschen da sein. Kirche und Gemeinde sind oft eher für ihre Strukturen bekannt – nicht zuletzt für imposante Kirchengebäude. Doch Petrus unterstreicht mit seinem Bild: Gemeinde, das sind die Menschen. Natürlich ist es schön, wenn diese einen Ort haben, wo sie sich treffen können, aber eigentlich ist es ein Missverständnis, dieses Gebäude als Kirche zu bezeichnen, denn es besteht nur aus toten Steinen. Die lebendigen Steine, die von Christus eingebaut werden, sitzen darin. Und wenn sie sich untereinander konstruktiv verhalten, sind sie «Gott wohlgefällig […] durch Jesus Christus».
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Datum: 04.04.2022
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet