Pfarrer Ernst Gysel

«Neue Aufbrüche erwarten»

Im Buch «David Spleiss» spürt Pfarrer Ernst Gysel einem aussergewöhnlichen geistlichen Aufbruch Anfang des 19. Jahrhunderts nach: Im schaffhausischen Buch erlebten Menschen dramatisch Gottes Gegenwart und wurden verändert.
Pfarrer Ernst Gysel mit seinem Erstlingswerk in seinem Arbeitszimmer in Frauenfeld
Buchcover «David Spleiss»

«Jetzt ist dem Fass der Boden ausgedrückt!», sagte David Spleiss am 12. April 1818 zu seiner Frau. Der Pfarrer des kleinen Dorfes Buch im Hegau hatte in der sonntäglichen Predigt gespürt, dass eine besondere Kraft von ihm ausgeht. Es war das Signal für einen geistlichen Aufbruch. Spontan versammelten sich an den Abenden Leute in Häusern, erkannten ihre Schuld, glaubten an Jesus und fanden inneren Frieden.

Erweckungswelle zieht weite Kreise

Das Dorf veränderte sich, alte Streitigkeiten wurden geschlichtet und Familien versöhnt. Im Januar 1919 begann unter Kindern und Jugendlichen eine zweite Erweckungswelle.

Die Vorgänge blieben nicht unbemerkt: Menschen aus dem ganzen Kanton Schaffhausen und den Nachbarkantonen Thurgau und Zürich zogen an Sonntagen in das kleine Dorf. Die Kirche platzte aus allen Nähten. Der Aufbruch zog weite Kreise. Der geistliche Frühling hatte Auswirkungen weit über Buch hinaus und prägte Kirche und Gesellschaft.

Neue Quellen in Dürrezeiten

Ernst Gysel aus Frauenfeld zeichnet in seinem neu erschienenen Buch «David Spleiss – Die Geschichte eines ungewöhnlichen Aufbruchs in der reformierten Kirche» das Leben dieses aussergewöhnlichen Mannes ergreifend nach. «Ich habe das Buch geschrieben, um Mut zu machen, neue Aufbrüche zu erwarten», sagt er. «Gott ist nichts unmöglich und er kann in Dürrezeiten neue Quellen aufbrechen lassen.» Er könne unerwartet die Geschicke von Menschen, Kirchen und Dörfern wenden: «Er ist ein Gott, der überrascht.»

Ernst Gysel ist verheiratet mit Verena, Vater von acht Kindern und war reformierter Pfarrer in Gächlingen (SH) und Frauenfeld (TG). Einige seiner Schaffhauser Vorfahren waren mit David Spleiss befreundet und gaben dessen Vermächtnis weiter. «Mich fasziniert sein tiefer, kindlicher Glaube an den dreieinigen Gott.» Dieser stand im Gegensatz zur von der Aufklärung und Bibelkritik geprägten Zeit.

Gottesbegegnung im Toggenburg

Schon als Kind hatte Spleiss eine tiefe Sehnsucht nach Gott. Während des Theologiestudiums in Tübingen kämpfte er jedoch mit schweren Zweifeln und flüchtete in eine Anstellung als Hauslehrer in Holland. Doch als er zum Professor für Mathematik und Physik am Kollegium in Schaffhausen berufen und später von der Regierung zum Pfarrer von Buch gewählt wurde, kam er diesem Ruf nach. Auf einer Wanderung ins Toggenburg erblickte Spleiss ein Kreuz auf einem Hügel und erlebte dort eine persönliche Gottesbegegnung und innere Ergriffenheit, die ihn stark veränderte. Er predigte mit zunehmender Freude und Leidenschaft. War er zuvor sehr einsam gewesen, fand er nun einen Freundeskreis und traf sich mit gleichgesinnten Pfarrern.

Geprägt wurde er auch durch die adelige Evangelistin Juliane von Krüdener. Überhaupt war es eine Zeit der Glaubens-Aufbrüche in Genf, Basel, Bern oder auch im katholischen Allgäu.

Ein Querdenker mit Ecken und Kanten

«David Spleiss passte sich nicht dem Mainstream und den Meinungen der Menschen an», sagt Ernst Gysel, «er war ein Original und Querdenker und liess sich in kein Raster einordnen.» Er sei seiner Zeit in vielem voraus gewesen. Als Visionär habe er die Schöpfung und Menschen mit Gottes Augen gesehen. Spleiss war impulsiv und lebhaft, war ein Mensch mit Ecken und Kanten: Er hatte Mühe, sich an feste Zeiten zu halten. Seine Sätze waren lang und kompliziert, er zeigte in Predigten starke Gefühlsregungen und machte lebhafte Gebärden. Manchmal wirkte er schroff. Aber er hatte auch eine weiche Seite, eine tiefe Liebe zu den Menschen. Die Kinder und Jugendlichen rannten ihm von Weitem entgegen, wenn er ins Dorf zurückkehrte. David Spleiss gründete mit Freunden in Buch die «Rettungsherberge» und später die Herberge «Friedeck» für arme, verwahrloste und verwaiste Kinder. Und er betete täglich Stunden für Mitmenschen, Regierung und Kirchenrat.

Frauen früh einbezogen

«Spleiss war ein Zeuge des lebendigen Gottes, seiner Herrlichkeit und Kraft – ein Dynamiker», sagt Ernst Gysel. Für viele gebildete Zeitgenossen war der Glaube ein Lehrsystem oder eine subjektive Vorstellung, für Spleiss aber eine objektive Realität. Spleiss suchte die verbindliche Gemeinschaft mit anderen Glaubenden und bezog entgegen dem Zeitgeist die Frauen voll ein.

Ernst Gysel: «Gott gebrauchte einfache Menschen aus dem Volk für diesen Aufbruch.» Es gab Spötter und Gegner im Dorf und auch Widerstand aus Pfarrerschaft und Kirchenrat, zum Beispiel mit dem Verbot von privaten Versammlungen. In all dem habe David Spleiss mit viel Weisheit und Besonnenheit die Gemeinde geleitet, so dass es keine ungesunden Auswüchse und Abspaltungen gab. 1841 wurde er sogar Vorsteher der reformierten Schaffhauser Kirche. Er hinterliess ein geistliches Erbe und öffnete eine Quelle «lebendigen Wassers». Der Bibelvers aus Johannes Kapitel 7, Vers 38 steht auf seinem Grabstein bei der Kirche in Buch.

Zum Buch:
«David Spleiss»

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Quelle: Stiftung Schleife

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