Erste Schritte zur Versöhnung?

Russische Christen verurteilen Ukrainekrieg

Betende Christen in Russland
Nach offizieller Lesart steht die russisch-orthodoxe Kirche voll hinter Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Doch eine vor Kurzem veröffentlichte Erklärung von russischen Christen dazu zeigt, dass das nicht die Meinung aller ist.

Die Situation vieler Christinnen und Christen in Russland ist angespannt. Längst nicht alle heissen die sogenannte «militärische Spezialoperation» gut, wie der Krieg dort offiziell genannt werden muss. Widerstand dagegen kann sie teuer zu stehen kommen. Als ein Pastor in Sankt Petersburg über die Bergpredigt sprach und dabei das Unrecht des Krieges erwähnte, wusste er, dass er auf dünnem Eis stand. Wie gefährlich es für ihn war, ahnte er noch nicht. Ein Gemeindemitglied hatte einen im Krieg verwundeten Jugendfreund in den Gottesdienst mitgebracht – inzwischen ein Mitglied der gefürchteten Gruppe Wagner. Nach seiner Predigt geschah jedoch nichts. Bis jetzt. Der Soldat kehrte einfach wieder an die Front zurück.

Widerstand rührt sich

Dieser Pastor und einige seiner Kollegen aus unterschiedlichen Denominationen gründeten mittlerweile ein geheimes Netzwerk, um sich darin auszutauschen und Schritte zu überlegen, wie sie sich für Frieden engagieren könnten. Darüber berichtet Jayson Casper ausführlich bei «Christianity Today». «Natürlich könnten wir einfach auf die Strasse gehen und protestieren, aber dafür kämen wir direkt ins Gefängnis», erklärte der Petersburger Pastor, der anonym bleiben möchte.

Am effektivsten sei es, in ihrem Einflussbereich zu arbeiten, auch wenn dieser klein sei. So treffen sich in dieser Gruppe regelmässig um die 25 Pastoren und Priester – es ist eine kleine Gruppe, und jede Erweiterung ist gefährlich. Letzten Sommer begannen sie, das Leben und die Theologie des Widerstands von Dietrich Bonhoeffer zu studieren, der wegen seiner Beteiligung am Attentat auf Adolf Hitler hingerichtet wurde. Daraus erwuchs eine Idee, wie sie mehr Aufmerksamkeit generieren könnten.

Eine anonyme Deklaration

Sie veröffentlichten im Internet eine Erklärung, die mit den folgenden Worten beginnt: «Wir, russische Christen verschiedener Konfessionen – Laien, Pastoren, Lehrer und Priester –, appellieren an alle Christen in Russland: Orthodoxe, Protestanten und Katholiken; Priester, Kirchenführer, Gemeinschaften, Organisationen, formelle und informelle Vereinigungen von Christen mit folgenden Thesen…».

In der Folge unterstreichen sie, dass «die Kirche […] das Recht und die Pflicht [hat], nicht nur ein liturgisches, sondern auch ein prophetisches Amt auszuüben (...) diejenigen, die gegen die Gebote Christi verstossen, bescheiden, aber entschieden zurechtzuweisen» und sie stellen klar: «Der Bereich der Politik kann nicht ausgeschlossen werden.» Um die Reichweite zu erhöhen, liessen sie diese Deklaration 2022 als Weihnachtsbotschaft von Russinnen und Russen im Exil vortragen, die dabei ihr Gesicht zeigten (YouTube, russisch mit englischen Untertiteln).

Manche kirchliche Leiter aus Russland kritisierten die Anonymität der Aktion. «Ich finde es immer verdächtig, wenn keine Namen genannt werden», meinte einer von ihnen. Manche sprachen sogar von einer ukrainischen Fälschung. Ruslan Maliuta, der die Ukrainehilfen der weltweiten Evangelischen Allianz koordiniert, hat keine Zweifel an der Urheberschaft, wies aber darauf hin: «Ich kann zwar die Gründe dafür verstehen, aber das schwächt die Botschaft erheblich.»

Ein kleiner Schritt in Richtung Versöhnung

Die Initiative des kleinen Kreises aus Russland ist kein Aufruf zur Revolution. Sie ging bis jetzt nicht viral und fand keine riesige Anhängerschaft. Trotzdem ist sie ein erstzunehmender Versuch von Christinnen und Christen aus Russland, Farbe zu bekennen, ohne dafür direkt inhaftiert zu werden. Ihr Fokus auf die eher politische und theologische Seite der Diskussion sehen etliche als Zielverfehlung an. Der russisch-orthodoxe Priester Andrej Kordoschkin, der im Exil lebt, meinte: «Ich habe noch nichts so tief Theologisches dazu gesehen», schränkt aber gleichzeitig ein: «Die meisten Russen, die mit dem Krieg unzufrieden sind, stehen nicht vor theologischen, sondern vor existenziellen Fragen. Sie fragen: 'Wie kann ich als Christ in einer solchen Kirche weiterleben?'»

Wahrscheinlich haben diese kritischen Stimmen recht, doch bei allen Anfragen an Inhalt, Format und Anonymität der Erklärung muss man die Situation der Verfassenden im Blick behalten. Der Petersburger Pastor fasste seine Meinung jedenfalls so zusammen: «Dieser Text zielt darauf ab, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen und zu zeigen, dass einige Russen sich gegen den Krieg ausgesprochen haben – und vor allem, warum. Es ist ein kleiner Schritt in Richtung Versöhnung.»

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Datum: 27.03.2023
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Christianity Today

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