«Manchmal frage ich mich, wo der Einfluss von Jesus heute bleibt»
Livenet: Reto Nause, wie stark
schätzen Sie als Historiker und Politologe den Einfluss von diesem Jesus
Christus auf die Geschichte und unser Staatssystem ein?
Reto Nause: Der Kern
der christlichen Soziallehre als philosophisch-politische Richtschnur ist
sicher hochaktuell und immer noch relevant. Es ist diese Kombination von
individueller Freiheit und Solidarität mit den Schwächsten, die so bestechend
ist. Einerseits ist bei uns jeder Mensch seines eigenen Glücks Schmied,
andererseits wird er nicht fallen gelassen, wenn er zum Beispiel krank oder
invalid wird. Diese beiden Kernwerte sollten gleich gewichtet werden.
Wir stellen in dieser Zeitung die
These auf, dass keine Person die Welt so stark beeinflusst habe wie Jesus. Was
halten Sie von dieser Aussage?
Als Gründer dieser
Soziallehre hatte er gewiss einen grossen Einfluss. Manchmal frage ich mich
aber, wo dieser Einfluss von Jesus heute bleibt. Mir scheint, dass dieses
Gedankengut von Solidarität und individueller Freiheit, das in unserem Land vor
25 Jahren noch selbstverständlich war, mehr und mehr verloren geht.
An welchen Punkten in der
Gesellschaft sehen Sie denn heute die christlichen Kernwerte bedroht?
Ich sehe in allen relevanten sozialen
Bewegungen eine kleine Minderheit, die sehr radikalisiert auftritt. Im
Umweltbereich gibt es Gruppen, die es in Ordnung finden, wenn man einen
Stadtgeländewagen abfackelt, im Flüchtlingsbereich schrecken extreme Gruppen
nicht davor zurück, Brandanschläge an Ausschaffungsgefängnissen zu verüben oder
zu Sabotageakten von Zügen und Flugzeugen aufrufen, weil sie diese als Teil der
Ausschaffungsmaschinerie brandmarken. Es gibt sogar vegane Bewegungen, die es
legitim finden, bei Metzgereien mal kurz eine Scheibe einzuschlagen. Das hat
mit Solidarität und individueller Freiheit nichts mehr zu tun.
Zeichnen Sie hier
nicht ein etwas zu schwarzes Bild unserer Gesellschaft, Herr Nause? Das
Zusammenleben ist doch grösstenteils friedlich in der Schweiz.
Der soziale
Frieden in der Schweiz ist gewahrt, das stimmt. Unsere Erhebungen in der Stadt
Bern zeigen, dass bei Demonstrationen, an denen randaliert wird, nicht etwa
Arbeitslose oder Sozialhilfebezüger dabei sind, sondern vielmehr Studenten,
Künstler, Banker, Schüler usw. Von sozialen Spannungen kann also nicht die Rede
sein; die Gewalt scheint andere Beweggründe zu haben. Klar ist: Die Gewalt
und Drohungen gegen Beamte haben seit zehn Jahren massiv zugenommen. Es wird
mit Lasern auf die Augen der Polizisten gezielt, es fliegen grosse Steine in
Richtung der Beamten und auch die Aufschriften in der Stadt wie «Kill more
Cops!» (Tötet mehr Polizisten!) zeugen von einer neuen Dimension von
Gewaltbereitschaft. Heute scheint es diesen radikalen Gruppen egal zu sein,
wenn jemand schwerverletzt oder sogar getötet wird. Diese Tendenzen sind nicht
akzeptabel.
Der Verzicht auf
Gewalt ist auch ein zentraler Wert, den Jesus gelehrt hat. Was ist zu tun, um
diesen Wert wieder stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung zu bringen?
Das ist eine gute Frage… Ich war jetzt gerade ein paar Tage in Deutschland.
Wenn Sie dort sind, haben Sie eine doch recht junge Nation vor sich, die aus
einem Weltkrieg kommt und sich dessen bewusst ist. In Karlsruhe gibt es beispielsweise
den Platz der Menschenrechte. Deutschland setzt sich also bewusst mit der Vergangenheit
auseinander, was zu einem würdevollen Umgang untereinander führen kann. Wir in
der Schweiz haben nicht ein solches historische Erbe und nehmen allein deshalb
wohl vieles als selbstverständlich hin. Manchmal ist es schon ein Witz, wie wir
mit Leidenschaft über Tempo-30-Zonen diskutieren können, aber handkehrum Debatten
über unsere Grundwerte wie die Würde des Einzelnen oder den Schutz des
Eigentums kaum zum Zug kommen. Heute ist es salonfähig, ein Haus zu besetzen,
obwohl die Eigentumsgarantie ein in der Bundesverfassung verankertes Grundrecht
ist. Es ist doch verrückt, dass Leute, die Häuser besetzen, dafür auch noch
Applaus ernten?!
Manche Menschen sagen, dass
die Welt ohne Religion friedlicher wäre. Wie sehen Sie das?
Ich bin der Meinung, dass es einen Kodex braucht, der definiert, wie man
miteinander umgehen soll. Ohne Regeln gehen wir Menschen aufeinander los! Alle
Religionen, wenn sie richtig interpretiert werden, wollen eigentlich die Gewalt
minimieren – auch der Islam. Meistens war die Religion in der Vergangenheit
nicht der Auslöser für einen Krieg, sondern sie wurde nur als Grund bei einem
bereits bestehenden Konflikt vorgeschoben. Ich bin der Meinung, die Religionen
können nicht so falsch sein, sonst hätten sie nicht schon über 2'000 Jahre
Bestand.
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Datum: 14.10.2019
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet