«Lückenbüsser», «Gewissensbiss» und «Lästermaul»
Davon kann ein Autor nur träumen: Ausverkaufte Exemplare, weltweite Beachtung, eine Lesens-Dauer von Jahrhunderten und ein einmaliger Einfluss auf die Muttersprache. All das und noch viel mehr hat Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung bewirkt. Bis dahin gab es zwar schon 18 deutsche Bibeldrucke, aber alle basierten auf einer österreichischen Übersetzung, die aus dem 14. Jahrhundert stammte und die die Leute einfach nicht verstanden. Martin Luther war hier doppelter Pionier: Er übersetzte aus der griechischen Ausgabe des Neuen Testaments von Erasmus von Rotterdam (im Gegensatz zu katholischen Ausgaben, die von der lateinischen Vulgata her übersetzt wurden) und vor allem: Er «schaute dem Volk aufs Maul» - und fand ihr Ohr.
Arbeit in der Zwangspause
Im Mai 1521 ist Luther auf dem Heimweg vom Reichstag zu Worms, wo er als Ketzer verurteilt worden ist. Sein Leben ist in Gefahr, und nach einer fingierten Entführung findet er auf der Wartburg Schutz.
Im Dezember 1521 beginnt er mit der Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche. Und er arbeitet schnell: «Wenn wir alle Tage zwischen dem 18. Dezember und Ende Februar zusammenrechnen, dann sind das nur 73 Tage, wenn er tatsächlich auch an Sonntagen gearbeitet hat», sagt der wissenschaftliche Leiter der Stiftung Lutherhaus Eisenach, Jochen Birkenmeier. «Das heisst: Er muss pro Tag doch eine relativ grosse Zahl an Seiten übersetzt haben. Luther muss wirklich im Fiebereifer daran gearbeitet haben, um das in der kurzen Zeit und in dieser Qualität fertigzubekommen.» Ende Februar 1522 beendet er die Übersetzung des Neuen Testaments, im September 1522 erschien sie im Druck. Die Erstauflage, 3'000 Exemplare, war schnell vergriffen – und das, obwohl das Buch einen Monatslohn kostete. Bis 1525 erschienen 22 Auflagen. 1534 lag dann die erste Übersetzung der ganzen Bibel vor, die «Biblia Deudsch».
«Herzenslust und Schandfleck»
Birkenmeier kommentiert: «Luthers Bibelübersetzung ist tatsächlich für unsere deutsche Sprache ein ganz wichtiges Datum. Mit der Lutherbibel wurde eine Grundlage für eine gemeinsame deutsche Schriftsprache überhaupt erst geschaffen. Man macht sich ja nicht so ganz klar, dass es zu Luthers Zeit noch relativ viele deutsche Dialekte gegeben hat, die sehr unterschiedlich geklungen haben und einen sehr unterschiedlichen Wortschatz hatten.»
Dass sich das Neuhochdeutsche als eine Art Standardsprache durchsetzen konnte, lag auch am schriftstellerischen und sprachlichen Talent Luthers. Der Reformator hat für seine Übersetzung viele neue Begriffe erfunden: Feuereifer, Herzenslust, Denkzettel, Fallstrick, Lockvogel, Lückenbüsser, Mördergrube, Rotzlöffel, Schandfleck. Auch viele Redensarten stammen aus der Feder Luthers, etwa: «Sein Licht nicht unter den Scheffel stellen», «sein Scherflein dazu beitragen», «wider den Stachel löcken», «im Dunkeln tappen» und «Perlen vor die Säue werfen».
Keine billige Anpassung
«Den Leuten aufs Maul schauen» bedeutete für Luther nicht, dass er die Tiefe und Komplexität der Bibel in Alltagssprache verflachte. Im Gegenteil: dass er neue Begriffe erfand und erschuf, zeigt sein Bemühen, die geistliche Wucht dessen, was er als «Wort Gottes» verstand, so rüberzubringen, dass die Leser und Hörer angesprochen und betroffen wurden. Damit hat er Millionen von Menschen nicht nur aufs Maul geschaut, sondern auch ins Herz getroffen.
Im 20. und 21. Jahrhundert sind mindestens 38 Bibelübersetzungen und -übertragungen in die deutsche Sprache und verschiedene deutsche Dialekte erschienen (Wikipedia). Weltweit gibt es 500 Jahre nach der Lutherbibel 3'524 Sprachen, in die die Bibel oder Teile davon übersetzt wurden: Gesamtübersetzungen gibt es in 719 Sprachen, vollständig übersetzte Neue Testamente in 1'593 und Teilübersetzungen in weiteren 1'212 Sprachen (Stand Januar 2022). Damit ist die Bibel nach wie vor das am weitesten verbreitete und auch das am häufigsten übersetzte Buch der Welt.
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Datum: 27.09.2022
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / SRF / Wikipedia