Loverboys in der Schweiz

«Es ist nur die Spitze des Eisbergs»

Schon 26 «Loverboy»-Fälle aus der Schweiz sind «Act212» bekannt. Es handelt sich um Mädchen ab zwölf Jahre. «Es handelt sich um Menschen- und Kinderhandel», sagt Irene Hirzel. «Leider nimmt der Menschenhandel global zu.» Livenet interviewte die Leiterin von «Act212» zu diesem Thema.
Junge Frau
Irene Hirzel
Bundesrätin Simonetta Sommaruga sprach an der Konferenz 2013 zum Thema Menschenhandel.

Livenet: Irene Hirzel, was sind die gegenwärtigen Schwerpunkte von Act212?
Irene Hirzel:
Wir haben drei Schwerpunkte. 1. Sensibilisierung und Schulungen 2. Die Nationale Meldestelle 3. Das Thema Loverboy, das leider auch viele Schweizer Opfer betrifft.

Was beobachten Sie betreffend «Loverboys» in der Schweiz?
Leider haben wir bereits 26 Meldungen von betroffenen Personen bekommen. Die meisten sind minderjährige Schweizermädchen, ab zwölf Jahre, wir sprechen hier klar von Kinder- und Menschenhandel.

Weshalb nimmt dieses Problem in der Schweiz zu?
Das Problem nimmt nicht zu, es wurde schlichtweg bisher nicht erkannt. Erst als die Meldungen bei uns reinkamen und wir Untersuchungen gemacht haben, wurde klar, dass hier etwas gemacht werden muss. Die 26 Meldungen, die wir bekommen haben, sind erst die Spitze des Eisbergs.

Sie setzen sich auch gegen den Menschenhandel ein. Hat dieser in den letzten Jahren eher zu oder abgenommen?
Leider nimmt Menschenhandel global zu. In der Schweiz ist vielen nicht klar, dass Arbeitsausbeutung – also Dumpinglöhne, lange Arbeitszeiten, mangelnde Arbeitssicherheit, fehlende Altersvorsorge und so weiter – in den Bereich Menschenhandel und Ausbeutung fallen und per Gesetz entsprechend behandelt werden.

Mit wie vielen Betroffenen rechnen Sie in der Schweiz?
Allein in den verschiedenen Arbeitssektoren muss man von Tausenden von Betroffenen ausgehen. Im Sexgewerbe ebenfalls. Die Zahlen der Betroffenen können nicht erhoben werden, dazu müssten sie erst einmal identifiziert werden, wie wir bei den Loverboy-Fällen sehen.

Welche Fälle haben Sie zuletzt besonders bewegt?
Das war sicher der letzte Fall, der am 14. Mai in der Berner Zeitung erschien. Ich habe mit der betroffen Mutter, die bei uns eine Meldung gemacht hat, gesprochen und das hat mich bewegt. Die Eltern sind selber traumatisiert, weil sie sich von Behörden und Fachstellen nicht ernstgenommen fühlen. Der einzige Weg etwas zu bewirken war für sie die Geschichte ihrer Tochter öffentlich zu machen. Leider hat mich die unsensible Berichterstattung enttäuscht, viel zu viele Details wurden preisgegeben, die das Mädchen und die Eltern gefährden könnte.

Ist das Bewusstsein in der Schweiz gestiegen?
Solange wir Schulungen und Konferenzen machen, wird das Bewusstsein steigen. Gute Berichterstattung ist ebenfalls wichtig. Heute werden die Leute mit so vielen Infos konfrontiert, dass wir immer wieder darüber berichten müssen, sonst gerät es in Vergessenheit. 

Welchen Unterschied können Sie durch Ihre Arbeit machen?
Es gibt messbare Fortschritte und solche, die wir nicht messen können. Messbar sind die bald 300 Meldungen, die über die Nationale Meldestelle reingekommen sind. Bei Meldungen die an die Polizei gehen, wird in verschiedenen Kantonen ermittelt. Über 30 Betroffene konnten durch unsere Vermittlung in ein Schutzhaus gebracht werden. Hunderte von Personen haben unsere Konferenzen und Schulungen besucht, tausende von Menschen werden durch Berichterstattungen und über die sozialen Medien erreicht. Das Thema Loverboy wurde durch uns bekannt gemacht und wird durch die von uns gegründeten Expertengruppe bearbeitet mit dem Ziel Prävention in Schulen und Jugendgruppen, Intervention durch Beratungsstellen und Ämter, polizeiliche Intervention und Ermittlung gegen Täter.

Bei der «StopArmut»-Konferenz 2013 hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga gesagt, «Kirchen und Gemeinden spielen im Bereich Menschenhandel eine wichtige Rolle». Ja klar, sie könnten einen Unterschied machen, das ist aber nur sehr punktuell gelungen. Gerade beim Thema Loverboy müssten Kirchen aufhorchen, da Opfer in den eigenen Reihen sitzen könnten.

Zur Webseite:
Act212

Zum Thema:
Act212 warnt: «Loverboys» sind auch in der Schweiz ein Problem
Sie kämpft für 3'000 Frauen: «Opferidentifikation ist mangelhaft»
Zwangsprostitution: Kaum in Betrieb ist die Meldestelle zum Bedürfnis geworden

Datum: 11.06.2019
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

Werbung
Livenet Service
Werbung