Altwerden in einer Welt, die einem immer fremder wird
«Kennen Sie das Gefühl, in einer Welt zu leben, die Ihnen immer fremder wird?», fragt der pensionierte Gerontologe Heinz Rüegger die 80 Teilnehmenden eines ökumenischen Bildungsmorgens im Zürcher Oberland. «Oder kennen Sie das Gefühlt, abgehängt zu werden?» Ein Nicken und Schmunzeln geht durch den Raum: «Wenn ich in einer Gruppe von Menschen nichts mehr verstehe, weil zu viele Hintergrundgeräusche stören», gesteht eine ältere Dame. «Oder wenn ich am Automaten der SBB kein Billett lösen kann.» Ein Mann erklärt: «Kaum habe ich die Handhabung einer Funktion am Computer begriffen, wird sie verändert und ich muss mich wieder damit auseinandersetzen – das nervt!» Sein Nachbar ist überzeugt: «Erst seit der Digitalisierung fühle ich mich abgehängt. Vorher konnte ich überall mithalten!»
Unterschied zu früher
Heinz Rüegger stellt fest: «Schon früher wuchsen Junge in eine Welt hinein, die den Älteren fremd war.» Obwohl gebildet, konnten seine Eltern Schulfächer wie Mengenlehre oder das Programmieren eines Computers nicht einordnen. Allerdings seien Veränderungen langsamer verlaufen, waren nicht so radikal wie heute. «Diese rasante Entwicklung ist nicht aufzuhalten, sie geht in zunehmendem Tempo weiter – die Differenz zwischen den Generationen wird immer grösser.» Er nennt als Beispiele digitaler Neuerungen die Kommunikation via Handy, Benutzung von Apps, Sitzungen per Zoom, das Streamen von Filmen oder den Online-Handel. «Sogar das Amtsblatt ist in manchen Gemeinden nur noch digital erhältlich.»
Wir sind nicht Opfer
Die Frage, warum ältere Menschen sich oft abgehängt fühlen, beantwortet Rüegger sachlich: «Wir lassen uns abhängen. Weil wir uns nicht ständig weiterbilden. Weil wir uns selbst von der heutigen Welt und ihren Entwicklungen entfremden.» Und bringt es auf den Punkt: «Wir sind nicht das Opfer fremder Machenschaften! Wir entscheiden uns dafür: weil wir Neuerungen eher kritisch gegenüberstehen, zu wenig neugierig und innovativ sind.»
Seiner Erfahrung nach nimmt das Interesse an Weiterbildung bei vielen mit der Pensionierung ab. Dabei sei es legitim, sich zu entscheiden, auf Neues zu verzichten, weil man mit dem Bisherigen zufrieden war. Wer allerdings darauf verzichte, lebenslang zu lernen, wem es zu anstrengend sei, sich auf allen Gebieten auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen, hänge sich selber ab. Für ihn steht fest: «Es ist heute absolut nötig, mit einem Handy umgehen zu können, gleich wie Lesen und Schreiben zu beherrschen.» Dennoch könne man sich entscheiden, auf Gewisses zu verzichten. So überlasse er das Nutzen der sozialen Medien wie Instagram und Tiktok seinen Enkeln.
Mit Neuem leben lernen
Unsere Welt werde immer globaler, multikultureller, technisch komplexer, pluralistischer und verändere sich immer schneller. «Das Heimatgefühl kommt uns abhanden.» Auch innerhalb einer Familie könne man sich fremd werden. «Traditionen verschwinden und wir sind von viel Fremdem umgeben.» Nun helfe es nicht, sich dagegen aufzulehnen, sich die «guten alten Zeiten» zurückzuwünschen. «Auch unsere alten Zeiten waren nicht nur gut», mahnt er. Es gelte, Neues anzuschauen, nicht sofort abzulehnen, sondern sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. «Wir kommen nicht darum herum, bis ins Alter lernbereit zu bleiben, uns neue Techniken anzueignen, und mit neuen Verhaltensweisen und Wertmassstäben auseinanderzusetzen. «Das ist und bleibt anspruchsvoll», gibt er zu. Aber die Hirnforschung bestätige, das Lernen lebenslang möglich sei. Er fordert dazu auf, als Neujahrsvorsatz eine neue Fertigkeit der digitalen Welt zu erlernen. Eine Dame reagiert darauf: «Ich will lernen, per Handy ein SBB-Ticket zu lösen!»
Widerspruch
Während der Austauschrunde wird betont, es sei einfacher, dranzubleiben, wenn man technikaffin sei. Wer kein Interesse habe an der digitalen Welt, fühle sich schnell abgehängt. Ausserdem sei das Tempo der Veränderungen sehr hoch – da kämen ältere Menschen oft einfach nicht mehr mit. Eine Frau meint, niemand solle an seinem Wert zweifeln, wenn er dies wahrnehme. Es gebe andere Fertigkeiten, welche «digitale Immigranten» einbringen könnten. «Sehen wir uns doch als Ergänzung!»
Ausserdem erlebe sie, dass Junge sehr gern helfen – «Sie sind dann die Experten und mein Dank ermutigt sie.» Durch ihre Lebenserfahrung, dem Umgang mit Krisen, der Verwurzelung im Glauben könnten Ältere den Jüngeren Vorbild und Ermutiger sein. «Fragen wir doch Gott, wie wir mit unseren Gaben zu ihrem Aufblühen beitragen können», fordert ein Mann auf. «Was brauchen Junge von uns Alten?»
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst….
Moderator Johannes Huber weist auf das Gebot der Nächstenliebe hin. «Lasse ich mich abhängen, weil es bequemer ist? Und lade damit zum Beispiel meiner Frau die Last auf, den Familienchat zu bedienen? Oder sollte ich mich meinem Nächsten zuliebe auf Neuerungen einlassen?» Diese Entscheidung zu treffen, sei nicht einfach. Doch auch hier könne man sich Hilfe holen, bei Menschen und auch bei Gott. Der reformierte Pfarrer zitiert die Tageslosung aus Psalm 31, Vers 25: «Ich dachte, ich würde aus deiner Nähe verbannt, doch du hast mich gehört, als ich um Hilfe schrie.» Der Heimatlosigkeit in der zunehmend fremden Welt könne man begegnen, indem man Heimat suche bei Gott.
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Datum: 16.11.2023
Autor:
Mirjam Fisch-Köhler
Quelle:
Livenet