«Medair»-Helfer im Irak

Eine harte Rückkehr in die Heimat

Weniger Menschen als erwartet sind bisher aus dem Nordirak in den Zentralirak zurückgekehrt. Doch sie werden tatkräftig beim Wiederaufbau unterstützt, berichtet «Medair»-Teammitglied Wolfgang Binninger
Dr. Muna, selbst 2014 geflüchtet, arbeitet heute mit Medair an der irakisch-syrischen Grenze

.Wolfgang Binninger, wie erleben Rückkehrer die Situation im Irak?
Wolfgang Binninger:
Weniger Vertriebene als ursprünglich angenommen haben bisher den Weg «nach Hause», also in ihre Herkunftsorte, angetreten. Sie leben trotz widriger Umstände in provisorischen Verhältnissen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Dörfer und Häuser, aus denen die Menschen flohen, zu einem grossen Teil stark beschädigt bis komplett zerstört sind. Manchmal steht das Haus noch in seiner Grundsubstanz, aber Türen und Fenster sind zerstört. Erschwerend kommt hinzu, dass das Terrain noch nicht von Minen und Blindgängern geräumt ist. Ausserdem fehlt es vielerorts an grundlegender Infrastruktur: Wasserleitungen, Sanitäranlagen, Strom. Auch Bildungs- und medizinische Einrichtungen sind grossflächig zerstört und nicht mehr funktionsfähig. Kalte Nächte und der bevorstehende Winter erschweren die Lebensbedingungen der Menschen zusätzlich. Angesichts einer Lebensinvestition, die der Bau eines Hauses bedeutet, sind diese Menschen als Grossfamilie zurückgeworfen. Oder um es in den Worten einer älteren Frau, mit der ich sprechen konnte, auszudrücken: «Ich lebe nicht dort, wo ich gut und glücklich von meiner Hände Arbeit und derjenigen meiner Familie leben kann, sondern muss als Bittstellerin Obdach im Haus meines Onkels suchen.» Indem wir Gesundheitseinrichtungen sanieren oder neu errichten, leisten wir einen konkreten Beitrag dazu, dass Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren können.

Wie sieht es in der Umgebung der Rückkehrer-Familien aus?
Ökonomisch gesehen bildete vor dem Krieg die Land- und Viehwirtschaft die Lebensgrundlage der Region. Das Stück Land, das die Menschen bei ihrer Flucht verliessen, und das ihnen einst Heimat war und Wohlstand ermöglichte, ist bei ihrer Rückkehr meist nicht mehr wiedererkennbar, beziehungsweise in der gewohnten Weise weiter zu verwenden. So wurden beispielsweise in einer Ortschaft, die vor der Krise für ihre Olivenbäume bekannt war, von den Invasoren alle Bäume gefällt und verbrannt: Ein mutwilliger und nachhaltiger Schaden, der jegliche kurz- bis mittelfristige wirtschaftliche Perspektive zerstört.

Wie ist die Lage von älteren Menschen in solchen Krisen?
Wenn die Zeit drängt und Leben auf dem Spiel stehen, geht es humanitären Mitarbeitenden primär darum, möglichst viele Menschen mit umfassender Nothilfe zu versorgen, um eine grösstmögliche Anzahl an Leben zu retten. Leider bedeutet dies, dass spezifische Bedürfnisse bei diesem Wettlauf gegen die Zeit oft untergehen und gerade ältere Menschen vielmals leer ausgehen. Denn Betagte haben meist besondere Bedürfnisse und brauchen individuell abgestimmte Unterstützung. Sie leiden beispielsweise an chronischen Krankheiten oder sind auf einen regelmässigen Zugang zu Medikamenten und Gesundheitsleistungen angewiesen. Andere haben körperliche Einschränkungen oder Behinderungen, die ihren Alltag in einer neuen Umgebung enorm erschweren. Das heisst, sie brauchen individuelle, massgeschneiderte Hilfsleistungen, die viele humanitäre Organisationen inmitten von Krisen nicht gewährleisten können. Unseren Teams ist diese Situation bewusst und sie geben ihr Bestes, um angemessen auf diese oftmals «unsichtbaren» Bedürfnisse älterer Menschen zu reagieren.

Nun ist mit dem Türkei-Einmarsch in Syrien die Region Irak und Syrien weiterhin nicht zur Ruhe gekommen. Wie wirkt sich diese Aktion der Türkei aus?
Die aktuelle Krise begann während der letzten Tage meines Feldbesuchs. Wir rechneten schon damals damit, dass Menschen aus den betroffenen Gebieten die Grenze zum Irak überschreiten würden. Diese Annahme hat sich nun nach meiner Rückkehr auch tatsächlich bewahrheitet. Als humanitäre Organisation können wir uns nicht zu politischen Fragen äussern, um unser Engagement nicht zu gefährden. Klar ist jedoch: Neue Flüchtlingswellen und weitere Verschiebungen von ganzen Gemeinschaften werden sicher zu einer erhöhten Instabilität und damit zu einem noch grösseren Bedarf an humanitärer Hilfe führen. 

Welche Hoffnung sehen Sie aus christlicher Sicht?
Ich bin der Überzeugung, dass wir als Christen, und wir als Medair im Besonderen, von Gott berufen sind, gemäss der Bibelstelle aus Matthäus Kapitel 25, Vers 35 zu leben: «Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben.» Diese Stelle beschreibt unseren Grundauftrag. Seit 30 Jahren unterstützen wir Menschen in Not und zwar ungeachtet ihrer Herkunft, Nationalität, ihres Geschlechts oder ihrer religiösen Ausrichtung. Ich durfte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass die Mitarbeiter von Medair und auch Mitarbeiter anderer humanitärer Organisationen nachhaltige Hilfe leisten. Als internationale Mitarbeiter gehören wir keiner der involvierten Parteien an, sondern können durch Fachkompetenz und Professionalität tatkräftig zur individuellen Verbesserung der Lebensumstände der Menschen vor Ort beitragen. Massgeblich für unser Handeln ist, dass wir dies auf Augenhöhe mit den Betroffenen tun. Beispielsweise indem wir sie fragen, was ihre dringendsten Bedürfnisse sind und später überprüfen, ob unser Handeln den gewünschten Effekt erzielt hat. Nebst den Vertriebenen selbst haben wir auch das Wohl jener Gemeinschaften im Auge, die Geflüchtete aufgenommen haben.

Was wünschen Sie sich persönlich?
Persönlich wünsche ich mir, dass in der Zusammenarbeit unserer internationalen Mitarbeiter, die Christen sind, mit den nationalen Kollegen dieses Mehr spürbar ist, das uns als Christen geschenkt ist: dass wir von uns und unseren eigenen Bedürfnissen wegschauenen und uns ganz dem Nächsten annehmen dürfen, weil wir wissen, dass auf uns geschaut wird. Denn die tägliche Arbeit unserer Kollegen im Nordirak, wie auch an allen anderen Brennpunkten, in denen Medair Nothilfe leistet, ist geprägt durch entbehrungsreiches und fleissiges Anpacken. Ich wünsche mir, dass wir täglich unsere klare Vision leben können, die das Ehepaar Volkmar vor 30 Jahren bei der Gründung unserer Organisation kommunizierte: In den Krisengebieten dieser Welt Leid zu lindern und Menschen neue Hoffnung zu schenken.

Zur Webseite von Medair:
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Datum: 03.01.2020
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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