Coole Spiritualität!
Religion ist lediglich ein menschliches Phänomen. Theologen wie Karl Barth («Religion ist ein von Natur aus glaubensloses Unterfangen») und Dietrich Bonhoeffer («religionsloses Christentum») haben die Religion als blassen Ersatz für wahre Spiritualität verworfen. Das unterstützt der Präsident des Dachverbandes Freikirchen.ch, Peter Schneeberger, der sagt: «Man muss unterscheiden zwischen einer bei Geburt erhaltenen religiösen Zugehörigkeit und einem persönlichen Glauben. Ich bin überzeugt, dass der persönliche Glaube an Jesus Christus nichts an Bedeutung verloren hat. Gerade weltweite Geschichten von verfolgten Christinnen und Christen dokumentieren eindrücklich, wie stark ihnen der persönliche Glaube in der schwierigen Situation Kraft zum Überwinden gibt.»
Er ist überzeugt, dass trotz der zunehmenden Modernisierung der Glaube aktuell bleibt. Das zeige sich nur schon daran, dass die Welt insgesamt spiritueller wird. Das Christentum wächst in Südostasien, in Südamerika oder im südlichen Afrika stark. Schneeberger: «Leider differenzieren die meisten Statistiker nicht zwischen Religion und Evangelium, denn es gibt Tausende von Religionen, doch nur ein Evangelium. Religion heisst auch 'zurückbinden oder gefügig machen'. Aber Jesus setzt frei, dies war den religiösen Führern schon immer ein Dorn im Auge.»
Kein Untergang des Christentums
Obwohl die etablierten Landeskirchen in Deutschland, England oder der Schweiz letztes Jahr Rekordaustritte zu verzeichnen hatten, bleibt die Zukunftsforscherin Florence Gaub optimistisch: «Ich stelle keinen Untergang des Christentums fest. Die etablierten Kirchen haben zwar Mühe. Aber ich spüre gerade bei jungen Menschen eine hohe Sehnsucht nach Übersinnlichem und Spiritualität. In diesem Markt muss sich die Kirche neu reformieren.» Florence Gaub ist Futuristin und Expertin für Sicherheits- und Aussenpolitik. Aktuell berät sie den Europäischen Rat in Strategic Foresight. Zuvor war sie auch am NATO Defence College beschäftigt. Schwerpunkt von Florence Gaubs Arbeit sind Langzeittrends, zukünftige Herausforderungen und Chancen und generell die Vorbereitung hierauf. Zum Übersinnlichen ergänzt sie: «Die Fragen nach dem Grösseren und Übernatürlichen fallen auch in etablierten und reichen Ländern nicht weg. Woher ich komme und wer ich bin, bleiben aktuelle Fragen.»
Atheismus verliert: Mehr Wachstum durch Glauben
Der vielfach ausgezeichnete US-Ökonom und Experte für Geldpolitik Benjamin Friedman (78) ist auch Professor an der Harvard University und Autor des Buches «Religion and the Rise of Capitalism». Er bezeichnet sich selbst nicht als religiösen Menschen. Trotzdem sagt er auf die Frage: Ist es aus wirtschaftlicher Sicht besser, in einem christlichen oder einem atheistischen Umfeld aufzuwachsen? «Es gibt Hinweise, dass Länder, die durch religiöse Überzeugungen geprägt sind, mehr Wirtschaftswachstum haben als andere. Dabei spielt der Glaube an ein Leben nach dem Tod eine wichtige Rolle, weil dieser die Arbeitsethik positiv beeinflusst», erklärt Benjamin Friedman in einem Interview in der Neuen Zürcher Zeitung. Für den Soziologen Max Weber war die Konsequenz der Prädestination, dass die Menschen ständig in einer existenziellen Angst gefangen sind, ob sie zu den Auserwählten gehören oder nicht. Deshalb sucht man nach Zeichen für das Auserwähltsein. Wirtschaftlicher Erfolg wurde als solches Zeichen gesehen. Friedman: «Denn wenn wir göttlich dazu bestimmt sind, glücklich zu sein, dann werden auch die gesellschaftlichen Institutionen so ausgestaltet, dass sie diesem Ziel dienen.»
Dieser Artikel erschien zuerst auf Dienstagsmail.
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Datum: 03.08.2023
Autor:
Markus Baumgartner
Quelle:
Dienstagsmail