Indien: Was im Westen zu wenig bekannt ist
Livenet konnte in der letzten Woche mit R. Gilbert, einem indischen Christen und Sozialarbeiter sowie mit verschiedenen Indien-Kennern in der Schweiz (z.T. mit indischen Wurzeln) reden. Was übereinstimmend über das Land weitergegeben wurde, ist alarmierend.
Grobe Menschenrechtsverletzungen
Dass auf dem Subkontinent, der in der Theorie laut Verfassung ein säkularer Staat ist, Christen (und übrigens auch Muslime) regelmässig massiv belästigt, angegriffen, vergewaltigt und getötet werden, ist mittlerweile nicht mehr zu leugnen. Diese schlimmen Zustände für viele Menschen in Indien kommen in westlichen Medien so gut wie nicht vor.
Im Gespräch wurden schier unglaubliche Details über massive Wahlfälschungen, abrupte wirtschaftliche Zwangsmassnahmen (die zu Millionen Arbeitslosen führten), den Niedergang der Wirtschaft und die Zwangs-Gleichschaltung der indischen Medien bekannt. Einige Faktoren sind speziell wichtig, um das Schicksal der Christen in Indien zu begreifen. Wir fassen sie hier zusammen:
1.) Wie zu Hitlers Zeiten: Die unheimliche Macht des RSS
Der nationalistische und patriotische RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) steht als ideologische Kampftruppe hinter der regierenden BJP-Partei. RSS ist vermutlich die weltweit grösste Freiwilligenorganisation mit rund 10 Millionen aktiven ausgebildeten Mitgliedern. «Sie präsentieren sich als hochaktive soziale Organisation, aber in Wirklichkeit trainieren sie Männer, Mädchen und Jungen, mit Stöcken, Schwertern und Dolchen zu kämpfen und verteilen sie zum Einsatz» erklärt Gilbert. Was im Westen oft nicht bekannt ist: Leitende RSS-Mitarbeiter sind glühende Verehrer von Adolf Hitler. Kenner der Situation beschreiben die Angst, die die Gewalteinsätze des RSS verbreiten, demnach auch treffend mit den Aktivitäten der SS in Hitlerdeutschland.
2.) Das Kastensystem
Die RSS wird von einem starken Glauben an das Kastensystem beherrscht. Nach Artikel 15 der indischen Verfassung offiziell abgeschafft, wird es mit der Vorherrschaft der Hindu-Nationalisten heute mehr und mehr zur beherrschenden Realität, und es sind starke Bestrebungen im Gange, es wieder in der Verfassung zu verankern. Bekanntlich beruht das System nach der Bhagvadgita auf der Annahme, dass alle Menschen aus einem Gottmenschen geschaffen wurden. Brahmanen, die Priesterkaste, wurden aus dem Kopf erschaffen und halten sich für das Haupt; sie stellen 4.3% der Gesellschaft. Die darauf folgenden Kshatriyas (Herrscher, aus den Armen geschaffen) und die Vaishyas (Bauern und Geschäftsleute, aus dem Bauch geschaffen) stellen je 7% der Bevölkerung. Die politische Macht halten praktisch ausschliesslich Angehörige dieser höheren Kasten. «Die gegenwärtige Regierung hat einen grossen Glauben in das Kastensystem und will es in der Gesellschaft dauerhaft umsetzen» erklärt Gilbert.
Die führenden Kasten, vor allem die Priester, haben nach diesem System das Recht, niedrigere Kasten (und erst recht Angehörige anderer Religionen) zu unterdrücken und auszubeuten. Gilbert: «Es gibt immer wieder Angriffe auf die Gemeinschaften, Vergewaltigungen, Morde und allerlei Übergriffe auf diese niederen Kasten. Sie werden der Gerechtigkeit beraubt, und fast jeden Tag gibt es Proteste im ganzen Land, nur werden sie nicht beachtet. Sie werden von den Polizeistationen abgewiesen und ihre Fälle werden oft nicht vor Gericht akzeptiert. Sie werden jeden Tag gelyncht»
3.) Vergewaltigungen
Im Kastensystem haben vor allem die Priester das Recht, Frauen, die als minderwertig gelten, zu «gebrauchen». «Die Vorfälle von Ausschreitungen, Vergewaltigungen und Gräueltaten gegen Frauen sind eine alltägliche Geschichte» erklärt Gilbert im Gespräch. «Viele der amtierenden BJP-Führer und Parlamentsabgeordneten werden beschuldigt, Mädchen und Minderjährige zu vergewaltigen und sogar zu töten, aber es wird nicht viel gegen sie getan. Zeugen verschwinden einfach. Das Verbrechen und das Versagen der Rechts- und Ordnungslage ist schrecklich»
4.) Religiöser Druck
Die islamische Gemeinschaft wird z.T. massiv angegriffen. «Überall in der Region wurden Muslime von RSS-Mobs gelyncht, die von der Polizei unterstützt wurden, und töteten viele Menschen. Es gibt Vorfälle, dass die Häuser von Muslimen von Mobs überfallen wurden, und das gekochte Fleisch aus ihrem Kühlschrank wurde herausgezogen und benutzt, um sie dafür verantwortlich zu machen, dass sie die Kühe getötet und angegriffen und getötet wurden. Die Regierung von Uttar Pradesh hat alle Metzgereien mit Gewalt mit nur einer mündlichen Anordnung geschlossen» berichtet Gilbert.
Schlimm trifft es die Christen. «Durchschnittlich 30 Kirchen und Gemeinden werden pro Tag angegriffen, oft mit tödlichen Folgen» erzählt Gilbert. «In vielen Bundesstaaten sind jegliche christlichen Tätigkeiten völlig verboten. Die Regierung hat das FCRA (Foreign Currency Regulation Act) von mehr als 20'000 Organisationen widerrufen, von denen die meisten Christen sind. Das bedeutet, dass sie praktisch keine Gelder mehr aus dem Westen erhalten dürfen». Ein Beispiel: «Compassion International diente über 170'000 Kindern und war aktiv seit dem Ende der 1950er Jahre; es wurde geschlossen und schickte Zehntausende von Kindern hilflos auf die Strasse und in Kinderarbeit».
Alle christlichen Aktivitäten werden als «Bekehrung von Hindus durch Gewalt und illegale Anreize» bezeichnet. «Dutzende von hinduistischen Organisationen haben Schläger engagiert, die Kirchen, Gottesdienste, Gebetstreffen und alle christlichen Aktivitäten angreifen. Sie dringen in die Häuser ein, vergewaltigen Frauen und Mädchen, greifen jeden an, den sie finden, suchen Bibeln und verbrennen sie – das ist dauernde Realität» erklärt Gilbert weiter.
Mutter Theresa: «Agentin des Westens»
Die meisten Waisenhäuser im Land sind entweder geschlossen oder stehen kurz vor der Schliessung. «Mutter Theresa, Inbegriff der Nächstenliebe, wird beschuldigt, dass sie ein Agent des Westens ist», erklärt Gilbert. «Die Behörden haben in Dara Singh den brutalen Mord an Dr. Graham Stance und seinen beiden kleinen Kindern geduldet, indem sie in ihrem Minivan lebend angezündet wurden.»
Das «Gesetz über die Freiheit der Religionen» ist offenbar jetzt als Entwurf dem Parlament vorgelegt worden. Wer zum Christentum konvertieren will, muss nach diesem Gesetz zunächst die Erlaubnis des Richters einholen. Der Magistrat wird entscheiden, ob er es zulässt oder nicht. Im Falle einer Genehmigung wird der Magistrat die höheren Polizeibehörden anweisen, den gesamten Prozess zu untersuchen und zu überwachen. «Dies ist eine klare Verletzung der Menschenrechte und nimmt einem Individuum das Recht, seinen Glauben zu ändern, da das Recht auf Erlaubnis in den Händen des Magistrats liegt. Sollte dies ein Gesetz werden, werden sie in Indien alle christlichen Aktivitäten unter dem falschen Vorwurf der Gewalt und der Anstiftung einstellen – auf `legaler` Grundlage» befürchtet Gilbert.
6% der Inder Christen?
All diese Nachrichten – und der Druck gegen Christen – sind nicht zuletzt auf dem Hintergrund des starken Wachstums der Christen in den letzten Jahrzehnten zu verstehen. So ist einer unserer Gesprächspartner Teil einer Gemeindegründungs-Bewegung, durch die in den letzten Jahren 60'000 neue christliche Gemeinden entstanden sind. Der Leiter der Bewegung India Gospel League (IGL/Indische Evangeliumsliga), Pastor Samuel Stephens, erklärte in einem idea-Interview, dass die IGL in den letzten 25 Jahren 100'000 Gemeinden mit mindestens 20 Mitgliedern gegründet habe. Rund vier Millionen Einwohner sind nach Angaben von Stephens durch den Dienst dieser Organisation Christen geworden. Dadurch erhalten nicht zuletzt zahllose Dalits und Angehörige niedriger Kasten Sinn und Identität und Frauen eine Würde, die sie vorher nicht kannten. Stephens schätzt denn auch, dass bis zu 6% der Inder Christen sind. Die offizielle Ziffer beträgt 2.3%.
Westliche Kenner Indiens sehen auch positive Seiten dieses Drucks; endlich könnten sich indische Christen von westlicher Abhängigkeit und westlichem Geld befreien und ihre eigene Stärke einsetzen. Übereinstimmend rufen alle Leiter zu Information und ernsthaftem Gebet auf, dass durch die schweren Zeiten hindurch die Christen in Indien geschützt, aber vor allem das Reich Gottes massiv gefördert werde – wie es Druck und Verfolgung in der Geschichte immer wieder gezeigt hätten.
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Datum: 25.10.2019
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet