Leiten mit Charakter

Buchtipp: «Von der dunklen Seite der Macht»

Der Titel des Buchs klingt nach Aufarbeitung von Skandalen. Dabei setzen die Autoren zwar an, zeigen danach allerdings, dass Leitung nicht scheitern muss, sondern dass man leiten lernen kann.
Thomas Härry (links) und Michael Herbst (Bild: Esslinger Leiterforum / Uni Greifswald)
Buchcover «Von der dunklen Seite der Macht»

Bill Hybels, Ravi Zacharias, Jean Vanier, John Ortberg und Mark Driscoll verbindet, dass sie Christen sind, Männer, bekannte Leiter. Und es verbindet sie, dass sie nachhaltig gestürzt sind. Damit wurden sie, so wie viele andere, vom grossen Vorbild zum abschreckenden Beispiel. «Das hätte ich von ihm nie gedacht», heisst es jetzt. Oder noch schlimmer: «Eigentlich habe ich so etwas erwartet.»

Michael Herbst und Thomas Härry werfen in ihrem Buch «Von der dunklen Seite der Macht. Was Führung gefährdet und was sie schützt» analysierende Blicke auf das, was schiefgegangen ist. Dabei waschen sie keine schmutzige Wäsche oder ergehen sich in unerfreuliche Details. Stattdessen erzählen die Herausgeber zusammen mit ihren Co-Autoren von eigenem Versagen und Herausforderungen; von Fallstricken für Leitende; von einem konstruktiven Umgang mit Macht.

Es sind immer die anderen …

Im Buch kommt zur Sprache, dass unter den gestürzten geistlichen Grössen der letzten Jahre auffällig viele US-Amerikaner sind. Offensichtlich ist durch eine besondere Verehrung für Leitende und die Grösse der betreffenden Kirchen und Organisationen die Fallhöhe dort extremer als bei uns in Europa.

Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gleichen toxischen Strukturen und Verhaltensweisen auch in unseren Kirchen und Gemeinden zu finden sind. Der Umgang mit Geld, Sexualität, eigenen Defiziten, Macht und ihrer sinnvollen Begrenzung – diese und weitere Themen werden im Buch besprochen. Dabei wird schnell deutlich, dass sich weder die Probleme noch die positiven Perspektiven von Macht auf die USA beschränken. Folgerichtig beginnt und endet das Buch zwar mit den bereits genannten Personen, doch auf den knapp 300 Seiten dazwischen geht es um Deutschland und die Schweiz, um unsere Gemeinden, um mich als Leser. Schnell stellt sich ein Nathan-Effekt ein. «Du bist der Mann!», sagte der alttestamentliche Prophet König David nach seinem Versagen auf den Kopf zu. Diesen Blick in den Spiegel bewirkt auch «Von der dunklen Seite der Macht».

Expertise trifft Ehrlichkeit

Ein wichtiger Grund für diese Identifikation beim Lesen sind sicher die Autorinnen und Autoren der einzelnen Kapitel. Sie gehen zwar sachlich an ihre Fragen heran, erzählen aber sehr persönlich von ihrem eigenen Scheitern, ihren Herausforderungen. Und ihre Beispiele sind nicht weit weg. Kai Scheunemann (pastoraler Leiter einer evangelischen Gemeinde) spricht vom Neuanfang nach einer Gemeindekrise, René Winkler (ehemaliger Leiter des Chrischona-Verbandes in der Schweiz) von hilfreichen Strukturen und ihren Grenzen, Sabrina Müller (Pfarrerin) und Aline Knapp (Theologiestudentin) von der Rolle der Frauen in Gemeinden. Alle lassen ihre Fachkompetenz einfliessen und sprechen gleichzeitig transparent über sich selbst.

Das gilt auch für die Herausgeber: Beide haben schon mehrere Bücher zum Thema Leitung herausgegeben. Daran knüpfen sie mit dem vorliegenden Buch natürlich an. Man merkt, dass Michael Herbst als Professor für Praktische Theologie viele der vorliegenden Fragen seit Jahren bearbeitet, und es wird deutlich, dass Thomas Härry seine pastorale Erfahrung mit der Arbeit unter Führungskräften gut verbinden kann. So gibt es an etlichen Stellen im Buch konkrete und strukturelle Hilfen wie «Vier Schutzfaktoren» für eine geistliche Leitung. Gleichzeitig wird das Buch nie zu einem Ratgeber in der Art von «7 Schritte zum perfekten Leiter», obwohl es ein sehr wohltuendes und positives Bild von Macht vermittelt.

Eigene Schritte – möglich und nötig

Wer hat etwas von diesem Buch? Die wenigsten werden eine Nachfolge von Bill Hybels anstreben. Doch sowohl im beruflichen als auch im gemeindlichen Umfeld sind Christen als Leitende oder Geleitete unterwegs. Und die im Buch beschriebenen Themen sind sehr hilfreich, hier Zusammenhänge zu verstehen, das eigene Verhalten unter die Lupe zu nehmen und – vielleicht das Wichtigste – darüber zu sprechen. So laden Fragen am Ende jedes Kapitels zum weiteren Nachdenken und zum Gespräch mit anderen ein. Sehr konkrete Anregungen («Jede Leitungsperson ist nur für eine bestimmte Zeit die richtige Person») wechseln sich mit unerfüllten Wünschen ab («Wir brauchen Räume, in denen wir scheitern können»). Dabei ist der Umstieg von einer (zu) starken Führung zu schwacher Leitung für die Autoren keine Option.

Der immer wieder vorkommende Absturz geistlicher Leitfiguren und der viel dramatischere Schaden, den Menschen in ihrem Umfeld nehmen, ist ein wichtiger Grund, sich mit der dunklen Seite der Macht auseinanderzusetzen. Ein «Weiter so!» wäre fatal. Unabhängig von bekannten Namen ist es sinnvoll, dass Leitende und ihre Gemeinden in charakterliche Entwicklung investieren – dieses Buch ist eine gute Hilfe dazu.

Zum Buch:
Von der dunklen Seite der Macht. Was Führung gefährdet und was sie schützt

Zum Thema:
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Datum: 23.01.2022
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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