Gefangene besuchen

Seelsorger berichten über die Heraus­forderungen hinter den Mauern

Sie nehmen die Aussage von Jesus im Matthäusevangelium ernst.
Majorin Hedy Brenner, Leiterin des Gefängnisdienstes der Heilsarmee.
Die besuchten Gefangenen erleben, dass sich jemand Zeit für sie nimmt und mit ihnen spricht.
Gefängnis von Aussen (Symbolbild)

«Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht», sagte er da (Kapitel 25). Regelmässig besuchen Seelsorger Häftlinge in Schweizer Gefängnissen. Was ist ihre Motivation? Welche Erfahrungen machen sie und welche Heraus­forderungen warten hinter den Mauern?

Majorin Hedy Brenner, Leiterin des Gefängnisdienstes der Heilsarmee, hat in den letzten zehn Jahren rund 500 Gefangene besucht. Wenn sie ins Gefängnis geht, macht sie sich bewusst, dass sie im Menschen, der ihr gegenübersitzt, Christus begegnet. Die Fragen und Anliegen der Insassen stehen im Mittelpunkt des Gesprächs. Brenner trägt im Gefängnis keine Uniform. Sie will den Menschen auf Augenhöhe begegnen und ihnen zeigen, dass dieses Gespräch nicht im Auftrag der Behörde erfolgt. Was die Gefangenen ihr anvertrauen, unterliegt der Schweigepflicht, ausser, sie würde eine akute Gefahr der Selbst- oder Fremdgefährdung wahrnehmen. Hedy Brenner fragt den Gefangenen nie nach dem Delikt. Manche erwähnen es von selbst, andere nicht. «Der Mensch ist mehr als sein Delikt», ist sie überzeugt.

Den Menschen im Gefangenen wahrnehmen

Die packenden Lebensgeschichten der Gefangenen waren für Alfredo Díez, Präsident des Schweizerischen Vereins für Gefängnisseelsorge, stetige Motivation während der 20 Jahre, in denen er als Seelsorger der reformierten Kirche in verschiedenen Gefängnissen arbeitete. Díez fragte jeweils das Personal, welchen Gefangenen es nicht gut gehe. Diese besuchte er vor den Angemeldeten.

Wenn der Seelsorger mit dem Gefangenen in seiner Zelle sass und manchmal auch Tee mit ihm trank, konnte er den ganzen Menschen wahrnehmen. Er sah, wie er dort lebte, was ihm wichtig war, welche Bilder und Fotos an den Wänden hingen. Das Bedürfnis der Gefangenen nach dieser aufsuchenden Seelsorge sei in der Regel gross, sagt Díez, auch wenn die Besuchten nicht religiös seien. Sie würden erfahren, dass sich jemand Zeit für sie nehme und mit ihnen spreche. Auch für Díez ist das Seelsorgegeheimnis wichtig. Es öffne dem Gefangenen einen Freiraum, der für sein psychisches Wohlergehen hilfreich sei.

Gefährdetenhilfe und Prison Fellowship

Als Ergänzung und Unterstützung der kirchlichen Seelsorge in den Gefängnissen verstehen sich die Organisationen Gefährdetenhilfe Schweiz und Prison Fellowship Schweiz. Die Gefährdetenhilfe Schweiz wurde in den 1990er-Jahren gegründet und Prison Fellowship entstand in der gleichen Zeit als Zweig der gleichnamigen internationalen Organisation. Beide Vereine berufen sich auf den Auftrag, wie ihn das Evangelium weist: Gefangene zu besuchen. Einzelne Mitglieder beider Organisationen tun dies in verschiedenen Schweizer Gefängnissen. Und als Gruppe bieten sie auch Gottesdienste und Gesprächsgruppen hinter den Mauern an. «Immer wieder ergeben sich so gute Kontakte zu den Gefangenen und wertvolle Gespräche», erzählt Werner Burkhard, Präsident der Gefährdetenhilfe Schweiz.

Zwanglos in den Dialog treten

Widerspricht christliche Gefangenenseelsorge nicht dem Prinzip der Neutralität? «Aufgrund der bei uns herrschenden Glaubens- und Gewissensfreiheit sehe ich hier kein Problem», meint Luzia Zuber. Sie ist Präsidentin von Prison Fellowship Schweiz. Das Christentum habe das ethisch-moralische Fundament der westlichen Gesellschaft geprägt. Es biete Antworten auf brennende Fragen unserer Gesellschaft und sei von enormer Kraft geprägt. «Dass man Gesprächspartnern - zumal solchen, die sich in einer Ausnahmesituation befinden - keine Glaubensüberzeugungen aufzwingt, ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Das hat Jesus Christus auch nicht gemacht», sagt Luzia Zuber. Wenn sich Insassen und ihre Angehörigen geschätzt und ernst genommen fühlten, dann würden sie aufmerksam und stellten allenfalls Fragen. Sie würden zu Suchenden und es entstehe ein wertvoller Dialog.

«Restaurative Justiz»: Opfer und Täter zusammenführen

Die Organisation Prison Fellowship Schweiz setzt sich stark im Bereich der «Restaurativen Justiz» ein. Diese hat zum Ziel, Opfer und Täter zusammenzubringen, um einen gemeinsamen Weg der Heilung, Erneuerung, Veränderung, Verantwortungsübernahme und Wiedergutmachung zu suchen.

Unter der Federführung des Schweizer Forums für «Restaurative Justiz» konnte Prison Fellowship bereits zur Durchführung von drei Kursen in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg beitragen. «Diese Arbeit steckt in der Schweiz noch in der Pionierphase», sagt Luzia Zuber, Präsidentin von Prison Fellowship Schweiz. Das Thema nehme jedoch Fahrt auf. «Um die Rückfallquote massgeblich zu senken, ist echte Versöhnung eine tragfähige Basis. Mit den Gedanken der 'Restaurativen Justiz' wird damit ein konkreter Weg aufgezeigt», ist Luzia Zuber überzeugt.

Und Menschen mit anderer Religion?

Alfredo Díez gibt zu bedenken, dass die Präsenz anderer Religionen im Gefängnis eine Realität sei, der es zu begegnen und Raum zu geben gelte. «Laut der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die in der Bundesverfassung verankert ist, sowie den Weisungen der kantonalen Justizvollzugsverordnungen steht den Gefangenen jeder Religion grundsätzlich das Recht auf seelsorgerliche Begleitung zu», sagt Díez. Das längerfristige Ziel in der Gefangenenseelsorge sei deshalb, dass ausgebildete und vom Justizvollzug zugelassene Seelsorger aller Religionen Gefangenen auf Anfrage zur Verfügung stehen würden. Im Moment werde eine Basisausbildung aufgebaut. Diese umfasse auch Grundkenntnisse über die Strafprozessordnung und Abläufe im Strafvollzug.

Die Herausforderungen in der Gefangenenseelsorge

Mit welchen Herausforderungen leben Menschen, die Gefangene begleiten? «Ich habe keine Angst vor dem Umgang mit einem Mörder im Gefängnis», sagt Hedy Brenner vom Heilsarmee-Gefängnisdienst. Aber es sei für sie oft schwierig, perspektivlosen Gefangenen in der Ausschaffungshaft zu begegnen. Für Alfredo Díez ist die Begleitung von Insassen, die mit einer sogenannten «kleinen Verwahrung» aufgrund eines Sexual- oder Gewaltdelikts einsitzen, herausfordernd. Der Gefangene lebe in andauernder Ungewissheit über die weitere Dauer der Gefangenschaft. «Es ist seelsorgerisch sehr schwierig, Menschen in dieser Ungewissheit zu begleiten und ihre Not mit ihnen auszuhalten!»

Für Werner Burkhard, der vor seiner Pensionierung mehr als dreissig Jahre beruflich im Strafvollzug tätig war, ist die Begleitung von alt werdenden Gefangenen, die immer zahlreicher werden, eine Herausforderung, die auf die Seelsorger und Besucher zukommt. «Insbesondere in der Frage der Sterbebegleitung müssen sich christliche Seelsorger deutlich vernehmen lassen», sagt Burkhard. «Gerade im Gefängnis muss die Frage von Schuld und Vergebung thematisiert werden.»

Zum Thema:
Bruno Grabers Vermächtnis: Auch Schwerverbrecher haben eine Menschenwürde

Sind Gefängnisinsassen böse?: «Ich unterscheide zwischen Tat und Täter»
Tobe Nwigwe: Ohne ihn würden viele im Gefängnis oder im Sarg enden

Datum: 08.07.2019
Autor: Dorothee Baumgartner
Quelle: idea Schweiz

Werbung
Livenet Service
Werbung