«Ein Geschenk von meiner Frau»
Dass Andreas Maul (49) heute ein ziemlich normales Leben führen und als Dozent am Seminar für biblische Theologie in Beatenberg hoch über dem Thunersee wirken kann, ist nicht selbstverständlich. Vor rund zwanzig Jahren stellte seine damalige Hausärztin bei einer Routineuntersuchung fest, dass seine Nierenwerte nicht in Ordnung sind. Sie schickte ihn umgehend in die nephrologische Ambulanz der Uni-Klinik Freiburg im Breisgau. Der dortige Arzt machte gleich einen sehr besorgten Eindruck und veranlasste, dass der junge Familienvater Tage später stationär aufgenommen wurde. Seine Nieren sollten punktiert werden.
Pastorendienst infrage gestellt
Das Ergebnis der Untersuchungen war niederschmetternd. «Ich litt unter einer Autoimmunerkrankung. Diese hatte meine Nieren schon so stark angegriffen, dass sie nicht mehr zu retten waren. Die Ärzte sagten mir, dass ich mich bald auf ein Dialyseverfahren einstellen müsse», blickt Andreas Maul zurück. Er hatte bis dahin noch nie etwas von Dialyse gehört. «Ich fühlte mich ziemlich gesund und war noch nie länger im Krankenhaus gewesen. Noch vor wenigen Tagen war mein Leben völlig in Ordnung gewesen.»
Er und seine Frau Lotti hatten Pläne für die Zukunft, und auf einen Schlag hatte sich alles verändert. «Genau in dieser Zeit wurde ich offiziell als Pastor in unsere Gemeinde eingeführt. Der Einführungsgottesdienst war für uns ein Wechselbad der Gefühle», erinnert er sich. «Ich hatte keine Ahnung, wie es möglich sein sollte, mit einer starken Behinderung meinen Dienst auszuführen.»
Den Körper nicht weiter vergiften
Die Gemeinde betete dafür, dass Gott Heilung schenkt. Immer wieder wurde der Pastor ermutigt, nicht aufzugeben. «Wir glauben doch an einen Gott, der Wunder tut!» Doch jede weitere Untersuchung in der Uni-Klinik zeigte, dass seine Nieren immer schlechter funktionierten. Die Ärzte sagten ihm, dass sie sehr bald handeln müssten, damit sein Körper nicht weiter vergiftet werde. «Immer wieder spielte ich in Gedanken durch, wie ich die Dialyse mit meinem Beruf und dem Familienleben vereinbaren könnte. Es würde nicht einfach werden. Ich müsste meinen Arbeitsumfang erheblich reduzieren», war sein Ringen. Bei einer weiteren Untersuchung erwähnte sein Arzt noch die Möglichkeit einer Lebendspende. Normalerweise müsse man als Dialysepatient mehrere Jahre auf eine mögliche Organtransplantation warten. Durch eine Lebendspende würde ihm die ganze Dialyse erspart bleiben.
Nur Andreas' Frau Lotti kam als Spenderin infrage. Für eine Transplantation müssen die Blutgruppe und einige Gewebemerkmale zwischen Spender und Empfänger kompatibel sein. Erstaunt und dankbar erfuhren Andreas und Lotti, dass die Ärzte nach einigen Tests grünes Licht für sie gaben. «Es fiel mir nicht leicht, dieses Geschenk von meiner Frau anzunehmen. Ich betrachte es als das grösste Opfer, das sie für mich bringen konnte, und bin heute noch unendlich dankbar dafür», äussert er sich zur Entscheidung.
Ein unberechenbarer Gott?
Die Transplantation verlief ohne grössere Komplikationen. Schon zwei Monate später konnte Andreas wieder fast normal seinen Alltag bewältigen. Er war überglücklich und hatte das Gefühl, dass Gott ihm das Leben noch einmal geschenkt hatte. Doch die unbeschwerte Zeit sollte nicht lange dauern. Eine Untersuchung nach anhaltenden Magenschmerzen ergab den Befund, dass er an Lymphdrüsenkrebs erkrankt war. Es folgten eine kräftezehrende Chemotherapie und endlose Aufenthalte im Krankenhaus. «Gott war für mich in dieser Zeit fremd und unberechenbar geworden. Ich hatte keine Hoffnung, wieder gesund zu werden. Ich zweifelte nicht nur an der Güte Gottes, sondern auch an seiner Existenz», beschreibt der heutige theologische Dozent seine Gefühle und Gedanken ungeschminkt. «Doch Gott gab mich nicht auf. Die Chemotherapie schlug so gut bei mir an, dass bereits nach zwei Zyklen keine Tumorzellen mehr im Röntgenbild zu entdecken waren.» Dieser Befund war für ihn überwältigend. Nach Wochen der Verzweiflung und Depression konnte er wieder aufatmen, weil seine Chance auf Heilung deutlich gestiegen war.
Immer wieder ein Ja zu körperlichen Grenzen finden
Es verging jedoch noch eine lange Zeit, bis Andreas Maul wieder gesund wurde. Weitere Rückschläge und Krankenhausaufenthalte folgten. Seine Kraft, seine Geduld und seine Zuversicht liessen nach. «Doch Gott liess mich nicht los und sorgte schliesslich dafür, dass der Krebs ganz wegging, und dass sich mein Körper langsam von den Strapazen der Therapie erholte», meint er erleichtert. «Das Leben wurde mir ein zweites Mal geschenkt, doch weitere gesundheitliche Probleme folgten im Laufe der Jahre. Ich erkrankte an Diabetes Typ 2 und erlitt im Sommer 2015 einen Herzinfarkt.» Die Nebenwirkungen der vielen Medikamente, die er inzwischen nehmen muss, machen ihm zu schaffen. Sie führen unter anderem dazu, dass er ziemlich anfällig für Infekte ist und daher schnell krank wird. «Ich muss immer wieder ein Ja zu meinen körperlichen Grenzen finden, die meinen Lebensraum verkleinern, und darf mich nicht mit Leuten vergleichen, die vollkommen gesund und belastbar sind.» Trotzdem ist er dankbar, dass man ihm seine Krankheiten nicht sofort ansieht, und dass er grösstenteils ein ziemlich normales Leben führen kann. Seine Frau Lotti bereut die Nierenspende ebenfalls nicht und hat ihrerseits keine Beschwerden, obwohl ihr eine Niere fehlt.
Die Hoffnung ist vor allem jenseitig
Wenn Andreas Maul heute über Gottes Wesen und menschliches Leid predigt, so betont er viel stärker als früher, dass Christen in erster Linie eine jenseitige Hoffnung haben. Dabei denkt er vor allem an Aussagen von Paulus im Römerbrief (Römer Kapitel 8, Verse 18-25). Er erachtet es als eine Gnade, im irdischen Leben gesund zu sein.Zum Thema:
Er sollte sechsmal tot sein: Todkranker ist heute internationaler Inspirationsredner
Gehört und gehorcht: Organspende einer Rektorin – obwohl sie eigentlich gar nicht wollte
Aus Koma erwacht: «Mein Kleiner war einen Tag lang im Himmel!»
Datum: 27.03.2020
Autor: David Gysel
Quelle: idea Schweiz