Wenn die Heilung ausbleibt
Reto Kaltbrunner ist Pastor. Durch Leistung versucht er unbewusst, sich selbst, andere und auch Gott zu beeindrucken. Als er plötzlich chronisch krank wird, ändert sich seine Perspektive.
Ich war ein aktiver Mann, ständig auf Achse. Engagiert in meiner Ehe, mit unseren vier Jungs und im Beruf als Pastor des ICF St. Gallen. So weit ich mich erinnern kann, musste ich schon immer etwas am Laufen haben. Als Jugendlicher war mein Lebensmotto: «No risk, no fun!» Beim Sport pushte ich mich immer über meine Grenzen.
Es war mir immer wichtig, mein Allerbestestes zu geben. Gott sollte begeistert auf mein strenges Leben schauen und mir dabei lobende Worte zurufen. Unbewusst wollte ich durch meine Leistung mich selbst und andere beeindrucken, und von Gott Anerkennung erhalten. Meine Predigten sollten nicht bloss inspirieren, nein, sie mussten Leben verändern. Und zwar jeden Zuhörer und jede Zuhörerin, in jedem Gottesdienst!
Jede Chance wahrnehmen, ohne die Konsequenzen zu sehen
Obwohl ich meine Zeit frei einteilen konnte, war ich ständig im Stress. Morgens verliess ich das Haus vor den Kindern. Eigentlich hätte ich auch eine Stunde später gehen und meine Familie bei den täglichen Vorbereitungen unterstützen können, aber die vermeintliche Verantwortung hat lauter gerufen als die Bedürfnisse der eigenen Familie. Und an meine eigenen Bedürfnisse habe ich damals so gut wie nie gedacht. Wenn sich eine Türe auftat, ging ich hindurch – denn jede neue Möglichkeit war eine Chance, die nicht verpasst werden sollte! Dabei überlegte ich nicht, ob es überhaupt der richtige Zeitpunkt dafür war oder ob ich und meine Familie über die notwendigen Ressourcen dafür verfügten. Wieso hätte Gott sonst diese Situation geschenkt?
Ein Beispiel aus den Ferien am Meer bringt das gut auf den Punkt: Ich surfte mit dem Wind ins offene Meer hinaus, ohne zu überlegen, ob meine Kraft und Fähigkeiten dann noch ausreichen würden, wieder gegen den Wind zurück an Land zu kommen. Als die Menschen am Strand nur noch erbsengross waren, startete ich den Versuch, umzukehren. Habe ich schon erwähnt, dass es mein erstes Mal auf einem Surfbrett war? So gab ich bald enttäuscht auf, setzte mich erschöpft auf das Surfbrett, winkte um Hilfe und wartete auf meine Rettung.
Plötzlich schwach
Dann kam der Crash, der sich schon über mehrere Jahre angekündigt hat. Leider verstand ich die Zeichensprache meines Körpers noch nicht: Fühlte ich mich schwach, habe ich mich jeweils noch mehr angestrengt und so den körperlichen Hilfeschrei im Keim erstickt. Zuerst war ich ständig müde, habe regelmässig bis zu zehn Stunden geschlafen und brauchte einen zusätzlichen Mittagsschlaf. Beim Joggen klebten meine Füsse auf der Strasse, meine Beine waren schwer wie Blei, die Muskeln schmerzten. Eines Tages war ich so schwach, dass ich nicht mehr aufstehen konnte. Nach einem vierwöchigen Timeout im Bett konnte ich mich wieder aufrappeln. Unter grosser Anstrengung versuchte ich da weiterzumachen, wo ich aufgehört hatte. Aber es ging nicht. Meine Leistung hatte sich dauerhaft reduziert. «Das ist halt so, wenn du 40 Jahre alt wirst…!» war ein verzweifelter Versuch, das Unerklärliche einzuordnen.
Meine Frau und ich suchten Hilfe bei Ärzten, Naturheilpraktikern und Seelsorgern. Die ärztlichen Abklärungen waren mühsam. Eines Tages formulierte es ein behandelnder Arzt so: Hochgradiger Verdacht auf «Chronisches Fatigue Syndrom» (CFS). Diese eher unterschätzte Krankheit beinhaltet eine Fehlfunktion des Immun- und Nervensystems, welches mit beständiger Müdigkeit, Reizanfälligkeit, grippalem Gefühl, Schmerzen und Schwächezustand und einer Zunahme der Beschwerden einhergeht.
Was wird Gott tun?
Wir waren verunsichert: Auf der einen Seite die Hoffnung auf sofortige Heilung und auf der anderen Seite die Möglichkeit, dass Gott uns diesen Zustand noch auf unbestimmte Zeit zumuten könnte. Meine Frau und ich sind weiterhin entschlossen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um meine Gesundheit zu stärken und darauf zu vertrauen, dass Gott das tun wird, was ausserhalb unserer menschlichen Grenzen liegt.
Jedes Leiden und die damit verbundene Frustration sind real und der Umgang damit oft schwierig. Nicht jede Leidensgeschichte endet zu Lebzeiten so spektakulär wie bei Hiob, der gänzlich geheilt wurde. Aber jedes Kind Gottes hat die Hoffnung, spätestens in der Ewigkeit vollständig wiederhergestellt zu werden. So real unsere Herausforderungen im Leben sind, so real ist diese Perspektive! Ich glaube, dass sich viele Menschen mit einer Krankheit disqualifiziert fühlen. Sie sehen sich nicht mehr als Teil des Teams aktiv auf dem Spielfeld, sondern passiv zuschauend auf der Ersatzbank. Sie sehen sich nicht in der Verfassung, etwas Wertvolles zu Gottes grossem Plan mit uns Menschen beitragen zu können. Diese Reaktion auf Schwäche ist menschlich und darf kritisch hinterfragt werden. Denn wir sind geliebte Kinder Gottes – ohne oder mit Krankheit! Und somit hat jedes Gotteskind etwas Wertvolles beizutragen.
Glaubenshelden durch Krankheit
Nachdem Paulus im Brief an die Hebräer diverse bewundernswerte Vorbilder des Glaubens aufzählte, folgt ein Text über Christen, die wegen ihres Glaubens verhöhnt, misshandelt und getötet wurden. Dann folgt diese Ermutigung in Hebräer, Kapitel 11, Vers 39-40: «Diese alle haben durch den Glauben Gottes Zeugnis empfangen und doch nicht die Verheissung erlangt, weil Gott etwas Besseres für uns vorgesehen hat: dass sie nicht ohne uns vollendet würden.»
Die Bibel macht deutlich, dass Menschen, die aufgrund ihres Glaubens Leid erleben, für andere leuchtende Vorbilder sind. Könnte es sein, dass wir, die wir durch Krankheit und Leid gehen, genau dadurch eindrückliche Glaubensvorbilder sein können? Sicher ist, dass jede leidende Person einen besonderen Auftrag von Gott erhalten hat. Solche Glaubenshelden braucht es auch heute noch! Und Gott sei Dank gib es sie; auch in deinem und meinem Leben.
Zu meinem Freundeskreis zählen zwei ältere evangelische Pfarrer. Beide lieben Gott, trotz persönlichem Leid: Der eine ist während des ersten Corona-Lockdowns in Jahr 2020 in eine Depression gefallen. Der andere hat körperliche Herausforderungen. Aber beide sind immer noch von Gott begeistert. Sie haben nie aufgehört, den Menschen Mut zuzusprechen, Gnade zu predigen, Ehepaare zu trauen und Gott zu dienen. Ein weiterer Freund, er ist auch Pastor wie ich, leidet an einer seltenen Rückenkrankheit. Hätte sich unsere Beziehung in den letzten Jahren nicht in eine Freundschaft entwickelt, wüsste ich wahrscheinlich nichts von seinem Leiden. Er behält es weitgehend für sich, lässt sich davon nicht disqualifizieren und dient Gott in der Art, wie nur er es kann. Er nimmt seinen Platz in Gottes Reich treu ein. Eine Freundin von uns hat mehrere Jahre unter starken Depressionen gelitten. Sie hat die Beziehung zum himmlischen Vater nicht aufgegeben und dient heute erfolgreich als Coach.
Alle diese Menschen wissen, was es heisst, ganz unten zu sein und nicht aufzugeben. Sie sind meine persönlichen Glaubenshelden! Bestimmt kennst du auch solche Personen. Oder vielleicht bist du in deinen aktuellen Umständen selbst ein Vorbild für andere.
Sehen Sie hier einen Livenet-Talk mit Reto Kaltbrunner:
Zum Thema:
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Autorin Kerstin Wendel: Hoffnung finden trotz chronischer Krankheit
Krankheit, Gebet, Heilung: Muss Gott mich heilen?
Datum: 10.09.2022
Autor: Reto Kaltbrunner
Quelle: ICF Magazin