Wenn die Bibel nicht mehr weiss ist
Wenn Sandra aus Zürich und Max aus Hamburg in ihren Bibeln lesen, dann erleben sie dabei ein interessantes Phänomen: Plötzlich ist Jesus ein bisschen wie sie. Er scheint zu verstehen, was Sandra gerade an ihrem Arbeitsplatz durchmacht, und Max findet in der Bibel Antworten auf Erziehungsfragen für seine beiden Teenager. Dieses «Funktionieren» eines antiken Textes über Raum und Zeit hinweg ist eine Besonderheit der Bibel. Das passiert den Wenigsten, wenn sie Hesiod lesen, falls sie diesen antiken Griechen lesen. Für Christinnen und Christen erscheint es aber geradezu normal. Die Kraft der biblischen Erzählungen ist bis heute zu spüren und ihre Relevanz begründen die biblischen Autoren damit, dass Gottes Geist darin mitschwingt. Inspiration nennt sich dieses Phänomen, das Paulus ausgerechnet mit Blick ins Alte Testament so beschreibt: «Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.» Interessant ist es, dass diese Sichtweise automatisch viele Deutungen der Bibel zulässt. Erst in den letzten Jahren merken Theologinnen und Theologen, dass nicht nur Laien davon ausgehen, dass die Bibel «von ihnen» spricht, sondern auch Profis im eigenen Weltbild gefangen sind.
Unsere Bibel ist weiss geworden
Auf Nachfrage ist es vielen Menschen klar, dass Jesus nicht wie in etlichen Verfilmungen mit hipper Langhaarfrisur, gebügeltem Gewand und europäischem Gesicht durch Israel gelaufen ist. Er sah wohl eher aus wie die Israelis oder Palästinenser, die uns gerade in den Nachrichten über den Gaza-Krieg gezeigt werden. Trotzdem würden die meisten Christinnen und Christen Jesus eher in der Hollywood- als in der Palästinenservariante zeichnen, wenn sie es sollten. Dasselbe gilt für theologische Zusammenhänge. Da liest man heute bei Paulus einen Begriff wie Gerechtigkeit und erklärt ihn anhand des römischen bzw. europäischen Gerichtswesens. Den wenigsten Christinnen und Christen in unseren Breiten fällt das negativ auf. Warum auch? Sie sind selbst weiss, westlich geprägt und dieser Ansatz unterstützt das, was sie in ihrem Alltag erleben und empfinden. Wenn hier ein anderes Denken hineinkommt, empfinden Theologinnen und Theologen das oft als Affront. Als aus Lateinamerika die Befreiungstheologie nach Europa kam, wurde sie als Angriff auf «weisses Denken» verstanden. Zu Recht! Gleichzeitig gestehen sich die Wenigsten ein, dass unsere Theologien ebenfalls ein Angriff auf afrikanisches, asiatisches oder mikronesisches Denken sein könnten. Ist unsere Theologie nicht einfach «biblisch» oder «normal»?
Ist eine «bunte» Bibel nötig?
An diesem Punkt setzt der Wheaton-Professor Esau McCaulley an. Der Schwarze Theologe untersucht unterschiedliche kulturelle Sichtweisen der Bibel. In einem Artikel bei Christianity Today hält er fest: «Die wichtigen Ideen und Trends kamen aus Europa oder dem weissen Nordamerika – schwarze Christen hingegen galten historisch gesehen als theologisch vereinfachend oder gefährlich. Aber ich sehnte mich danach, dass die Menschen die Tradition so kennenlernen, wie ich sie erlebt habe: lebensspendend, geistlich robust und intellektuell anregend.» Das Ergebnis seiner Studien ist ein multiethnischer Kommentar zum Neuen Testament. Dabei bringt er nicht nur den schwarzafrikanischen Kontext ein, denn er erkennt selbstkritisch: «In gewisser Weise war ich ein Heuchler. Ich wollte, dass man sich um die Beiträge meiner Gemeinschaft kümmert, ohne sich in ähnlicher Weise für andere zu engagieren. Ich musste weniger Zeit damit verbringen, mich zu beschweren, und mehr Zeit damit zuzuhören. Das Neue Testament in Farbe begann also mit dieser Einsicht.» Christliches Leben befindet sich in Europa und den USA eher auf dem Rückzug, gleichzeitig besteht die «Society of Biblical Literature» als weltweit grösste Organisation von Bibelwissenschaftlern, immer noch zu 86 Prozent aus Europäern. Ist eine «bunte» Sichtweise der Bibel, eine international geprägte Theologie, also nötig? Ja, weil sie laut McCaulley nicht weniger ist als das Anerkennen, dass Gottes Geist in verschiedenen Ethnien und Kulturen unterschiedlich wirkt – und gerade dadurch ein Gesamtbild ergibt.
Eine neue Normalität
Die Bibel oder Theologie «bunt» zu denken, soll nun auf keinen Fall dazu führen, dass Sandra Jesus als fremd erlebt und Max nichts mehr mit dessen Äusserungen über Erziehung anfangen kann. Im Gegenteil. Dies unterstreicht vielmehr, dass die Bibel nicht nur zu europäisch geprägten Christinnen und Christen spricht, sondern genauso zu Malaien und Massai. Und dass deren Erkenntnisse nicht nur für sie selbst, sondern für Menschen auf der ganzen Welt von Belang sind. Solch ein Glaube, der den Dialog mit anderen christlichen Sichtweisen einübt, verrät nicht die biblischen Grundlagen, wie einig befürchten, sondern stellt tatsächlich eigene kulturelle (Fehl-)Prägungen infrage. Wer sich das bewusst macht, dessen Glaube, Theologie und Bibellesen werden reicher, wie es McCaulley bildhaft unterstreicht: «Wir gehen nicht davon aus, dass unsere Kulturen über den Texten stehen. Stattdessen leuchten Wahrheiten heller auf durch das Zusammenspiel von Personen, Texten, Geschichte und Kultur, die andere vielleicht übersehen. Ein Chor kann eine Schönheit schaffen, die ein Solist nie erreicht.» Diese Perspektive ist nicht nur innerkirchlich wichtig. Sie betrifft nicht nur das Glaubensleben Einzelner. Der verstorbene Bischof Klaus Hemmerle wandte diese lernbereite Haltung auch auf die Begegnung mit anderen Menschen an: «Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.»
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