«Ich bin froh, dass ich nicht abgetrieben wurde»
pro trifft den SPD-Politiker Lars Castellucci im Februar, wenige Minuten vor der Abstimmung über ein Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche im Deutschen Bundestag. Kaum eine Debatte hat Frauenrechtler, Christen, Konservative und Linke in den vergangenen Monaten derart bewegt. Um ein Haar wäre die Grosse Koalition daran zerbrochen. Castellucci ist selbst Christ, in seiner Fraktion ist er verantwortlich für Kirchenpolitik. Wie hat er die Debatte erlebt, wie politisch darf die Kirche sein und was hält er als schwuler Mann davon, wenn Christen die «Ehe für alle» ablehnen?
pro: Herr Castellucci, wann waren Sie zum letzten Mal privat in einem Gottesdienst?
Lars
Castellucci: Das war am vergangenen Samstag, und zwar in der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin zu einem Kantatengottesdienst.
Es war wirklich toll!
Was hat Ihnen daran so gefallen?
Als ehemaligem Chorleiter und Organisten hat mir die Bachkantate besondere Freude gemacht und auch die Orgel.
Hat Sie auch etwas gestört?
Gestört
nicht, aber Liturgie und Predigt haben mich nicht sonderlich gepackt.
Da gehöre ich zu den rosinenpickenden Protestanten: Wenn eine Predigt
zwanzig Minuten lang dauert, dann muss ich daraus auch etwas für mich
persönlich ziehen können. Pfarrer haben es vermutlich wirklich schwer,
mir da gerecht zu werden. Ich brauche einen Ort, an dem ich geistlich
und theologisch auftanken kann, wo mein Horizont geweitet wird und ich
etwas erfahre und Dinge besser verstehe. Was ich überhaupt nicht mag,
sind politische Predigten, denn das habe ich ja im Bundestag schon
andauernd. Am schlimmsten ist es für mich, wenn ein Pfarrer auf der
Kanzel steht und sagt «Die Politiker ...». Das erlebe ich dauernd, diese
Pauschalisierung, weil man sich nicht traut, Ross und Reiter zu
benennen. Pfarrer können von mir aus sagen, dass sie die Position der
SPD zur Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen schlecht finden.
Aber sie sollten nicht alle Politiker in Haft nehmen, damit verstärken
sie ja nur ein schlechtes Politikbild, das es in diesem Land ohnehin
schon gibt. Wenn ich in die Kirche gehe, möchte ich gerne Theologie
haben und nicht Politik. Und wenn letzteres schon sein muss, dann bitte
nicht oberflächlich.
Sollte sich die Kirche in Sachen Politik also stärker zurückhalten?
Kirche
sollte in keiner Hinsicht zurückhaltend sein, aber sie sollte aus dem
heraus sprechen, was sie ausmacht. Sie sollte zum Beispiel keine
Vorträge über Digitalisierung halten, da kennen sich andere besser aus.
Aber sie könnte über den Einsatz für die Schwachen sprechen und wenn
Digitalisierung Schwache benachteiligt, dann wäre es ihr Thema. Wenn wir
die Kirchen bei Anhörungen im Bundestag um Stellungnahmen bitten, dann
wollen wir keine juristischen Gutachten von ihnen vorgelegt bekommen,
sondern wir wollen eine Einschätzung auf Basis des christlichen
Glaubens.
Das heisst, die Kirche spricht zu oft von Dingen, die sie nicht versteht?
Nein.
Sie darf fragen, ob zum Beispiel eine Grundrente gerecht ist oder
nicht, und dabei Bezug zum biblischen Arbeiter im Weinberg nehmen. Dort
erhalten sogar alle den gleichen Lohn, unabhängig von ihrer Leistung,
weil es ihnen zugesagt ist und weil es das ist, was sie bedürfen und
ihnen deshalb als Menschen zusteht. So entsteht Orientierung – aus dem
Evangelium heraus.
Ins
Gewissen spricht die Kirche beim Thema Ehe. Ihre Badische Landeskirche
traut schwule und lesbische Paare, Ihre Nachbarkirche in Württemberg tut
sich nach wie vor schwer damit. Ist das rückschrittlich?
Absolut.
Dennoch
müssen Sie als religionspolitischer Sprecher möglicherweise auch
Gespräche mit württembergischen Pietisten führen, die gegen die Homo-Ehe
sind.
Ich spreche immer gerne
persönlich mit den Leuten. Ich war kürzlich bei der Evangelischen
Allianz in Berlin und habe deren Vertretern deutlich gemacht, dass
ich einige Dinge in ihrer politischen Ausrichtung problematisch finde.
Da wäre zum einen der Umgang mit Homosexualität. Ich selbst bin schwul.
Und meine Mutter, die jeden Dienstag in einen Bibelkreis geht, hatte
damit zu kämpfen, weil sie glaubte, homosexuelle Handlungen seien Sünde.
Das Beispiel habe ich auch bei der Evangelischen Allianz erzählt und
erklärt, dass ich es falsch finde, wenn die Kirche Wunden aufreisst,
anstatt sich um Heilung zu bemühen.
Worum ging es bei dem Gespräch noch?
Ich
erzählte auch von einer Begegnung am Bahnhof. Ich traf dort eine Frau,
die mit ihren drei oder vier Kindern zum Zug ging. Sie sprach mich an
und war sichtlich empört darüber, dass der Bundestag die «Ehe für alle»
eingeführt hat. Ich sagte zu ihr, dass mir das Herz aufgeht, wenn ich
sie mit ihren Kindern sehe, weil sie sich um sie kümmert, sie zum Zug
begleitet und sicherlich auch sonst liebevoll mit ihnen umgeht. Unsere
Gesellschaft braucht so etwas. Diese Frau soll ihr Leben so leben
können. Aber ich wünsche mir von ihr, dass sie andere Lebensentwürfe
genauso akzeptiert. Wir müssen doch alle miteinander zurechtkommen, egal
ob wir kinderlos, alleinstehend oder sonst etwas sind. Ich finde es
unmenschlich, den Menschen Idealbilder einzupflanzen, an denen sie
wieder und wieder scheitern. Ich sprach mit der Allianz auch über
Schwangerschaftsabbrüche und das Werbeverbot im Paragrafen 219a ...
Die
SPD forderte jüngst die Abschaffung, die CDU wollte das Werbeverbot
beibehalten. Im Februar einigte sich die Koalition auf einen Kompromiss,
der beinhaltet, dass Paragraf 219a bestehen bleibt ...
Ich
selbst bin adoptiert und froh, dass ich nicht abgetrieben wurde.
Deshalb habe ich möglicherweise einen anderen Zugang zu dem Thema als
andere. Ich wünsche mir in dieser Debatte um Schwangerschaftsabbrüche
einen gemässigten Ton. Jeder sollte sich wünschen, dass in diesem Land
jedes Kind auf die Welt kommen kann. Wir müssen Familien und Frauen
unterstützen und auffangen, wenn Lebenssituationen schwierig sind. Leben
zu ermöglichen sollte an erster Stelle stehen. Erst danach kommen für
mich Fragen der Selbstbestimmung und alles andere. Dennoch kann niemand
ein Interesse daran haben, dass Schwangere im Untergrund oder im Ausland
Abtreibungen durchführen lassen. Dafür haben wir in Deutschland eine
befriedigende gesetzliche Regelung gefunden. Jetzt geht es darum,
Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte und ein umfassendes
Informationsrecht sicherzustellen. Wenn wir wollen, dass die Zahl der
Abtreibungen nach unten geht, sollten wir für Verbesserungen im sozialen
Bereich arbeiten, aber ohne zu stigmatisieren oder moralisieren.
Ihre
stellvertretende Fraktionsvorsitzende Eva Högl hat vor dem
Reichstagsgebäude für die Abschaffung des Paragrafen 219a demonstriert.
Die SPD-Fraktion hat ihr Ziel nicht erreicht.
Ich
habe der Beibehaltung von 219a zugestimmt und auch kein Problem damit.
Ich finde eine Informationsmöglichkeit angemessen und die gibt es.
Werbung darf es nicht geben, aber das verbietet auch das Standesrecht
der Ärzte. Deshalb halte ich den Paragrafen 219a eigentlich für
überflüssig.
Volker
Beck hat in einem Interview mit uns einmal davon berichtet, wie er
einerseits als Linker und Schwuler Hasspost von Christen bekam,
andererseits als jemand, der sich für die Religionsfreiheit einsetzt,
aber auch böse Briefe von Linken erhielt. Sitzen Sie auch zwischen den
Stühlen?
Ich bin ein
Brückenbauer, auch in religionsferne Kreise. Ich trete dafür ein, dass
Kirchen und Religionsgemeinschaften starke Partner sein können, auch für
politische Ziele, etwa im sozialen Bereich. Über Hasspost kann ich
bisher nicht klagen.
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Datum: 12.05.2019
Autor: Anna Lutz
Quelle: PRO Medienmagazin | www.pro-medienmagazin.de