Wie wir unsere Identität in Christus finden
In der heutigen Gesellschaft ist Identität eng in einem Netz aus Glaubenssätzen verwoben. Wir identifizieren uns zum Beispiel mit Statussymbolen, die mit einer Reihe weiterer Identitätsmarker verbunden sind. Wenn jemand einen grossen SUV fährt, unterstellen wir automatisch Ansichten, die damit einhergehen: Die Person ist ein Umweltsünder, Raser, ist reich und ein rücksichtsloser Prahler. So gibt es eine Vielzahl symbolträchtiger Dinge, mit denen wir – bewusst oder unbewusst – ein Statement darüber setzen, wer wir sind, was wir glauben und womit wir uns identifizieren: Ernährung, Fortbewegung, Ausbildung, Konsumgüter, Klamotten, Urlaubsziele und so weiter. Und als Christinnen und Christen? Was ist für unsere Identität als Christen entscheidend? Was ist unsere «Identität in Christus»? Und was macht das mit uns?
Gnade und Vergebung
Für Christen ist der zentrale Ankerpunkt Jesus Christus. Er ist der Namensgeber – «Christus». Er ist das Zentrum und der Bezugspunkt unseres Glaubens. Er ist derjenige, über den wir uns identifizieren. Jesus bietet eine breite Identifikationsfläche von der Nächsten- und Feindesliebe über Heilungswunder und Versöhnung bis hin zum Einsatz für Arme und Schwache in der Gesellschaft.
Bei allem, was Jesus ausmacht, gibt es aber eine Besonderheit, die ihn von allen Menschen, die jemals lebten, abhebt: sein Tod und seine Auferstehung. Das ist der Kern unseres Glaubens. Jesus hat sich hingegeben, um den Graben zwischen uns Menschen und Gott zu überwinden. Wir müssen keine Opfer mehr bringen, keine eigenen Anstrengungen anstellen, um Gott genügen zu können, sondern wir können «zuversichtlich vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten. Dort werden wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden, die uns helfen wird, wenn wir sie brauchen» (Hebräer 4,16). Das Christentum ist keine Philosophie der Selbstverbesserung oder Selbstoptimierung, sondern ein Glaube, der getragen ist von der Gnade und der Vergebung. Unsere Schuld wird uns nicht mehr vorgehalten, wir müssen nicht den Schuldenberg unserer Versäumnisse und Vergehen abtragen wie einen Bankkredit.
«Damit habe ich nichts zu tun»
Wir können zu Gott kommen, wir gehören zu ihm. Und das ist etwas, das wir uns nicht erarbeiten oder verdienen können. Wir werden von Jesus verwandelt: von Menschen, die von Gott getrennt sind, hin zu Menschen, die zu Gott gehören. Wir bekommen dadurch eine Identität, wie der verlorene Sohn im gleichnamigen Gleichnis, das Jesus erzählt hat (Lukas Kapitel 15, Verse 11-32). Er ist von zu Hause weggelaufen. Als er in desaströsem Zustand zurückkommt, bekommt er ein neues Gewand, das keine Spur mehr von seinem Leben auf Abwegen zeigt, sondern seine Zugehörigkeit zum Haus des Vaters signalisiert. Er bekommt eine erneuerte Identität und kann auf der Bugwelle seines Vaters schwimmen.
Etwas Ähnliches habe ich als Jugendlicher erlebt. Ich bin in einer ländlichen, provinziellen Gegend aufgewachsen, in der jeder jeden kennt. In dieser Umgebung war mein Vater Arzt im örtlichen Krankenhaus und ziemlich bekannt. Das hatte für mich den Vorteil, dass mich viele Menschen mit meinem Vater identifizierten, denn er hatte nicht wenige Menschen behandelt. Daher kam es immer wieder vor, dass jemand zu mir sagte: «Du bist doch der Sohn von dem Arzt! Der hat mir eine neue Hüfte eingesetzt, seither kann ich wieder gut laufen!» Obwohl das ein positives Image mit sich brachte und ich dadurch teilweise Vorteile hatte, war mir eines völlig klar: Das ist nicht mein Verdienst! Ich habe die Person nicht operiert, sondern das war mein Vater! Ich habe damit nichts zu tun, ausser, dass ich der Sohn bin. Auf ähnliche Weise kann ich als Christ leben. Ich berufe mich nicht auf meine Verdienste, sondern auf das, was Jesus getan hat. Über ihn, seine Liebe, seine Kraft und seine Versöhnung – mit mir selbst, mit Gott und mit meinen Mitmenschen – kann ich mich identifizieren.
Jakob ringt mit Gott
Mit Jesus unterwegs zu sein, hat auch eine praktische Seite. Die Identifikation mit Christus liefert die Grundlage unseres Lebens. Und doch stellt sich die Frage, wie sich das in unserem Leben auswirkt. Einige interessante und wesentliche Anregungen dafür lassen sich an einer Geschichte im Alten Testament ablesen.
Der dritte Erzvater des Volkes Israel war Jakob. Er hatte seinen Zwillingsbruder Esau betrogen und ihn um den Segen für den Erstgeborenen gebracht. Sein Name wurde buchstäblich der Inbegriff des Lügens und Erschleichens. Im 1. Buch Mose wird berichtet, dass nach einer langen Zeit der Trennung und der Zerwürfnisse ein Wiedersehen der beiden Brüder bevorstand. Jakob befürchtete das Schlimmste. In der Nacht vor dem Treffen kam es zu einer spannenden Begegnung: Jakob rang am Fluss Jabbok die ganze Nacht mit einem Engel. Am Ende fragte der Engel Jakob nach seinem Namen. «Jakob», antwortete er und stellte sich zu seiner Identität. Der Engel gab ihm einen neuen Namen: Israel. Aus dem Lügner wurde der Namens- und Identitätsgeber eines ganzen Volkes. Der Engel begründete die Namensgebung, indem er sagte: «Denn du hast sowohl mit Gott als auch mit Menschen gekämpft und gesiegt» (1. Mose 33,29). In der Rabbinischen Tradition, die oft etwas weiter gefasst ist als die christliche Auslegung, wird das «Ringen mit Menschen» nicht nur auf andere bezogen, sondern auch auf sich selbst. Dieses Ringen mit uns selbst ist etwas ganz Wichtiges, weil es fundamental der Frage nachgeht, wer wir sind. Können wir ehrlich zu unserer Biografie stehen? Zu unseren Schwächen? Das sollten wir nicht einfach übergehen, sondern sehr ernst nehmen.
Wir ringen mit Gott und mit uns selbst darum, wer wir sind, was uns ausmacht. Hier kommt auch die Vergebung zum Tragen. Wir sind begnadigt. Begnadigt –warum? Wovon? Schauen wir auf Jakob, der sich bis dato aus eigener Kraft alles erschlichen hat. Der Engel gibt Jakob einen Schlag auf die Hüfte. Ab dann humpelt er. Das erinnert ihn an diese Begegnung und daran, dass er den Kampf überstanden hat, aber fehlbar ist. Das Humpeln steht dafür, dass seine eigene Kraft nicht ausreicht, sondern dass er auf Gott angewiesen ist und bleibt.
Für uns bedeutet das, dass unsere eigene Fehlbarkeit den Blick auf die Gnade Gottes öffnet. In Römer 8,1 heisst es: «Also gibt es jetzt für die, die zu Christus Jesus gehören, keine Verurteilung mehr.» Unsere Fehler, unsere Schwäche und unsere Probleme definieren uns nicht, sondern sie erinnern uns an die Liebe, die Rettung und die Zugewandtheit Gottes.
Unseren Platz in der Welt finden
Das Zweite, das uns im Ringen mit Gott und mit uns selbst ausmacht, ist unser Platz in der Welt, den wir finden dürfen. Gott hat jede und jeden von uns wunderbar gemacht. In der Schöpfungserzählung heisst es, dass Gott uns nach seinem Bilde schuf. Wenn ich mich selbst anschaue, frage ich mich manchmal, wie das sein kann. Ich bin ein schwacher, fehlbarer Mensch. Ich versage, scheitere, werde wütend, sage unbedachte Dinge … Und doch habe ich auch Stärken, Gaben und Dinge, die ich besonders gut kann. Wie geht das zusammen?
Wir sind in Gottes Ebenbild geschaffen, und wir dürfen und sollen ihn repräsentieren. Aber niemand von uns ist vollkommen, niemand repräsentiert Gott vollständig in seiner unfassbaren Grösse. Nicht mal annähernd. Aber doch immer ein bisschen. Jede und jeder hat Anteil an der Grösse, der Schönheit und der Vielfalt Gottes und kann ein Stück dieser wunderbaren Vielschichtigkeit repräsentieren. Das äussert sich in unseren individuellen Gaben und Leidenschaften. Wenn jemand besonders gut malen kann, spiegelt sich darin Gottes Kreativität und seine künstlerische Kraft. Das entspricht ganz und gar nicht mir. Ich kann überhaupt nicht malen. Aber meine Kinder können das sehr gut. Sie können Gott auf diese Weise ehren und ihn repräsentieren. Ich bin eher musikalisch und kann ein bisschen «den Klang Gottes» zeigen. Andere Menschen sind handwerklich begabt und verkörpern die Schöpferkraft Gottes. Wieder andere sind naturwissenschaftlich unterwegs und erforschen die Wunder der Schöpfung. Die nächste Person ist geschickt in Verwaltungsdingen und ist in der Lage, Chaos in Ordnung zu bringen und so weiter. Wieder andere kümmern sich um Arme und Bedürftige oder setzen sich für die Schöpfung ein und tun damit genauso Gottes Werk. Wir dürfen uns bewusst sein, dass wir nicht perfekt Gott repräsentieren, sondern immer ein Stück weit. Und in Beziehung zu anderen, die uns ergänzen, wird das Bild immer grösser und schöner.
Das Ringen bedeutet, dass wir unseren Platz als Gottes Kinder in der Welt finden. Unsere Grundlage als Christinnen und Christen ist die Versöhnung mit Gott durch Jesus Christus. Deshalb kann uns nichts von der Liebe Gottes trennen. In diesem Selbstverständnis können wir leben. Und so dürfen wir mit Gott und mit uns selbst ringen. Zu meiner Identität in Christus gehört, dass wir auf unsere individuelle Weise Anteil haben an der Grösse Gottes und ihn in der Welt spiegeln können. Das ist eine Gabe und eine wundervolle Aufgabe.
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